Stadtschreiber 2023: Kai Hensel (Berlin)

Ankunft in Haihra

(c) Fotos: Claudia Daems

Erste Lesung
Verkostung von Schwarzwurst
Zu Gast beim Literaturtreff

(c) Texte: Kai Hensel

Erste Eindrücke

Deutsche blicken mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid auf die nordischen Länder. „Skandinavien“ sagen sie und schließen Finnland ein, obwohl Finnland natürlich kein skandinavi­sches Land ist. Aber erstens wissen viele Deutsche das nicht, zweitens ist „Skandinavi­en“ inzwischen ein Zauberwort, das für alles steht, was in diesen Ländern besser funktioniert: Schu­len, Verwaltung, Umweltschutz, Gleichstellung der Frau … Die Liste lässt sich lang, sehr lang fort­setzen. Und der Abstand wird größer, das ist nicht bloß ein subjektiver Eindruck, das bestätigen auch die Zahlen zu Wirtschaftswachstum, Bildungsabschlüssen, allgemeiner Lebenszufriedenheit …

Landet man in Helsinki (nachdem man auf dem Berliner Flughafen dank blockierter Sicherheits­kontrollen fast seinen Flug verpasst hat), bestätigen die ersten Eindrücke alle Klischees: Der Flug­hafen ist sauber und übersichtlich. Die Züge fahren pünktlich. Die Menschen sind freundlich. Man ist das aus Berlin einfach nicht gewohnt. Wobei ich die Pünktlichkeit der Züge erst später schätzen lernen werde: Erstmal fahre ich die knapp zweihundert Kilometer mit dem Fahrrad nach Tampere.

Die Straßen sind gut, die Seen überall, die Autofahrer rücksichtsvoll. Die Preise sind überall hoch, man fühlt sich ein ganzes Stück ärmer als zuhause. Immerhin gibt es, a home away from home, Lidl. 5,5 Millionen Finnen leben auf 338.500 km², dagegen 84 Millionen Deutsche auf 357.500 km². Man wird den Eindruck nicht los — in den folgenden Tagen bestätigt und verstärkt er sich —, dass der durchschnittliche Finne deutlich mehr auf die Reihe kriegt als der durchschnittliche Deutsche. War es nicht mal anders? Denn was man in den Städten und Dörfern auch sieht: Finnlands Reich­tum ist neu, bis vor wenigen Jahrzehnten war es ein recht armes Land. Finnlands Vergangenheit war ärmer als die deutsche, seine Gegenwart ist reicher; erst in den letzten ca. 20 Jahren hat sich das Verhältnis gedreht. Etwas hat sich verändert, in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, noch mehr aber in der Mentalität der Menschen. Mein Freund jedenfalls klagt zunehmend über Deutsch­land, seine Dysfunktionalität, die Rückständigkeit der Bürokratie — und er ist Mexikaner. Ende des Monats wird er kommen, ich bin gespannt, was er zu Finnland sagen wird. Mit dem Wetter wird er Probleme haben, das ist klar. Ansonsten freue ich mich darauf, ihm ein Europa zeigen zu können, das so reich, freundlich und friedlich ist, wie der globale Süden es sich vorstellt. Ich erstatte Bericht.

15.10.2023

Die erste Sauna

Finnland ist Sauna, klar. Wer in Finnland nicht in der Sauna war, war eigentlich nicht dort. Die Sauna ist Nationalsymbol, mehr noch als Sibelius oder Mücken, sie ist gewissermaßen finnische Essenz. Und ich habe Glück: Mein Autorenhäuschen liegt dicht am Kaukajärvi, am Ufer auf der anderen Seite gibt es eine öffentliche Sauna.

Ich gehe hin, ein bisschen beklommen.

Werde ich die hohen Temperaturen ertragen, lange genug durchhalten?

Werden die Finnen mich auslachen?

Ich komme an, ziehe mich um (in Finnland geht man mit Badehose in die Sauna, in vielen deutschen ist das verboten). Es gibt zwei Saunen, eine heiße und eine so lala. Ich gehe na­türlich in die heiße, das scheint mir authentischer. Ich setze mich oben auf die Bank, und ja — es ist heiß. Aber erste Überraschung: Die Finnen, die ich bislang als eher wortkarg erlebt habe – Kaurismäki abwärts -, tauen auf. Ein Gerede und Gelache, das kenne ich von zuhause nicht. In deutschen Saunen herrscht Entspannung. Es gibt auch keine Sanduhren, keinen „Noch eine Minute durchhalten“-Druck. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, der einzi­ge, der oben in seiner Ecke kauert und versucht, zehn Minuten – oder was er mangels Uhr dafür hält – vollzumachen, bin ich.

Zweiter Teil: Das Abkühlen im See. Finnland ist berühmt für seine Seen, einhundertacht­undachtzigtausend soll es geben, genau weiß es niemand. Es ist Ende Oktober, Schnee fällt, das Wasser ist kalt. Egal, ich klettere die Leiter runter.

Ich bin der Einzige, der schwimmt. Die Finnen steigen ins Wasser, ja. Aber sie bleiben zehn, höchstens zwanzig Sekunden drin, dann reicht’s ihnen. Ich, der ich authentisch sein möchte, bin der Einzige, der raus in den See schwimmt, Halbkreise um den Steg dreht und es schließlich, rot und steif gefroren, gerade noch auf den sicheren Steg schafft.

Zurück in die Sauna. Auf der oberen Bank die zehn Minuten voll machen. Zurück in den See. Rausschwimmen, Halbkreise drehen … So mache ich das sechs Runden. Je verbissener ich mich integrieren will, desto isolierter fühle ich mich.

Schließlich kann ich nicht mehr. Auch deshalb nicht, weil man im Wasser schneller aus­kühlt, als man sich in der Sauna wieder aufwärmen kann. Ich ziehe mich an, unter Schwie­rigkeiten, die Hände sind steif gefroren. Ein Finne, immerhin, hat mich beobachtet.

Er:      „Das war aber lang.“

Ich:    (schlotternd) „Die Kälte fühlt man nur die Minute, dann geht‘s.“

Er:      „Da muss ich lange trainieren, bis ich das schaffe.“

Ich gehe zurück nach Hause, immer noch zitternd; es wird lange dauern, bis ich wieder halbwegs warm bin. Ich denke: ‚Ha! Immerhin habe ich den Finnen gezeigt, was original finnische Saunakultur ist.‘ Der Preis ist Einsamkeit.

27.10.2023

Entdecke dein inneres Kind in Inari

Wir steigen aus dem Bus, und alles glitzert. Schnee liegt auf den Bäumen, den Hausdächern, den Straßen. Er funkelt in der Sonne wie ein Meer von Juwelen. Wir stapfen zu unserer Hütte, minus 15 Grad, schon nach wenigen Schritten geht’s uns glänzend. Der See vor unserer Hütte ist zugefroren. Wir trauen uns auf das Eis, zunächst nur ein paar Schritte. Als eine Gruppe Rentiere vor uns den See überquert, werden wir mutiger. Wir machen eine Wanderung durch den Wald, entlang am Juutuanjoki. Das Wasser rauscht, Eiskris­talle hängen von den Zweigen, meine Stimmung steigt bis an die Grenze zur Euphorie, zum Rausch. Das ist die Luft, klar. Finnland hat die beste Luft der Welt; das ist kein Gerücht, sondern offiziell, die WHO hat’s gemessen. Und bei minus 15 Grad atmet sie sich besonders gut. Aber es ist nicht nur die Luft und Kälte: Wir begegnen Kindern, die Schlitten hinter sich herziehen, und ich erinnere mich: Als ich klein war, hatten wir auch Schlitten. Hatten wir Schnee. Hatten wir dieses unglaubli­che, glitzernde Weiß, Schneeweiß eben – das ist unvergleichlich. Wir haben als Kinder Höhlen ge­baut, haben den Schnee in die Hand genommen, die filigranen Kristalle bewundert. „Auf der gan­zen Welt gibt es keine zwei identischen Schneekristalle“, hat mein Vater erklärt, und ich habe mich damals schon gefragt, wie er das beweisen kann. Wir haben mit Schneebällen Schlachten geschla­gen und Schneemänner gebaut. In den Alpen mag all das noch möglich sein. Aber in Berlin oder in Hamburg, wo ich lebe? Seit vielen Jahren habe ich keinen richtigen Schnee mehr gesehen. Höchs­tens graubraunen Matsch, der ein paar Tage liegt, bevor er in die Kanalisation fließt.
Einem Schneemann begegnen wir in Inari nicht — aber er wäre möglich. Alles scheint wieder mög­lich, ich fühle mich jung, nicht wie sechzehn oder siebzehn. Sondern wie vier oder fünf.
Wir werden auf dieser Reise noch viel Glück haben, zum Beispiel mit den Nordlichtern — fantas­tisch. Und sicher, es gibt viele Gründe, nach Lappland zu kommen. Aber was von dieser Reise in meiner Erinnerung bleibt, ist das Licht, das Weiß — das Glück der Kindheit.
Danke, Inari!

5.11.23

(c) Fotos: Julio Rodríguez

Abschied

Helsinki. Grauer Himmel, Regenschauer, plus 11 Grad. Nach minus 18 Grad in Ivalo ist die Hitze drückend. Helsinki scheint mir wie Berlin, nur dass es kleiner ist und alles funktio­niert. Aber das ist vermutlich ungerecht, schuld ist einfach meine trübe Stimmung — heute ist der letzte Tag in Finnland, in wenigen Stunden geht der Flug. Es war ein schöner Monat. Viel habe ich gesehen, viele Menschen kennengelernt, schöne Lesungen gehabt und Gesprä­che. Ich habe in heißen Saunen gesessen, kalten Seen gebadet, Rentiere, Nordlichter gese­hen — und zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder richtig viel Schnee.

Gleichzeitig war dieser Monat, auf weltpolitischer Bühne, düster. Exakt vor einem Monat hat die Hamas Israel überfallen. Jeder Griff zum Smartphone liefert neue Bilder und Berich­te über Bomben, zerstörte Stadtteile, tote Kinder. Dann die Nachrichten aus Deutschland: Gewalt bei Demos, Wirtschaftskrise, Koalitionskräche… In diesem Monat habe ich auf mei­ne Heimat geblickt wie auf ein Krisengebiet. In Finnland schien das alles unglaublich weit weg zu sein. Auch Finnland hat Probleme, schon klar. Inflation und Wirtschaftsflaute gibt es auch hier. Und was es bedeutet, in diesen Zeiten eine 1.300 Kilometer lange Grenze zu Russland zu haben, kann man sich in Deutschland, eingekuschelt zwischen befreundeten EU- und NATO-Staaten, schwer vorstellen. Trotzdem blieb das Gefühl, im friedlichen, ge­ordneten Finnland den Krisen der Welt entrückt zu sein. Was auch daran liegt, dass Finnland in der deutschen Presse in diesem Monat nicht vorkam, abgesehen vom Tod Martti Ahtisaaris, dem überall mit großem Respekt gedacht wurde — aber auch nur kurz, dann war wieder überall Krieg und Hysterie.

Heute Abend kehre ich also ins Krisengebiet zurück, es lässt sich nicht länger hinauszögern. So schlimm wird’s hoffentlich nicht werden. Aber obwohl ich noch am Senatsplatz im Café sitze, vermisse ich Finnland schon, vor allem Tampere, in dem ich den Großteil der Zeit verbracht habe. Und mit dem, sprechen wir’s aus, Helsinki nur mit Mühe konkurrieren kann (Das viele Grün! Die Industriearchitektur! Die Stromschnellen!).
Mein großer Dank gilt allen, die mir diesen Monat ermöglicht und ihn so schön gemacht ha­ben.

7.11.23