Mayjia Gille: Finnlandeindrücke

BLOG 1 – DER BÄR IST ERWACHT – Mayjia Gille

Eigentlich muss man als erstes in dieser Gegend eher von Eichhörnchen schreiben, weil sie so hübsch grau raun und keck sind und man sie auf fast jedem Baum lustig herumspringen sieht. Eigentlich möchte man auch als erstes in dieser Gegend von den berühmten Munkki schreiben, die so rund und so reich an Kardamom und so köstlich süß sind und für die man unendlich lange in Pyynikki am Turm, am Pyynikin Munkkikahvila, gerne ansteht. Aber ich will hier in dieser Gegend, die Pirkanmaa heißt und damit auch Tampere und Lempäälä meint, lieber von Bären sprechen. Ein Finne erzählte, es gäbe in Finnland einen Bären, der als bildender Künstler bekannt sei. Er male Bilder, also vielmehr schuppere er mit seinem Rücken und seinen Tatzen die Farbe in die Leinwand und trage den Künstlernamen Juuso. Ich hielt das für einen Witz, aber es stimmt. Und diese Kuriosität passt zu Finnland. Nach meiner Lesung in der Bibliothek in Helsinki, in der ich meinen Gedichtband „Trompeter auf der Landebahn“ las, erzählte Robert der Bibliothekar mir, dass es eine Insel bei Helsinki gäbe, auf der nur ein Haus sei. Man könne sie leider offiziell nicht befahren. Die finnischen Behörden fragten den Bewohner des Hauses, den einzigen Bewohner der kleinen Insel, was er da den ganzen Tag mache, ob er nicht zu einsam sei. Der Insulaner verneinte und gab an, den ganze Tag Trompete zu spielen. Das ist tatsächlich ein Grund, in der Einsamkeit zu wohnen dachte ich. Finnland ist voller Kuriositäten. Roger, der witzigste und einfallsreichste Belgier in der Gegend und Mann einer schönen Deutsch-Finnin sagte an einem Freitag, an dem ich unbedingt eine Wanderung durch die Wälder machen wollte, dass der Bär nun aufgewacht sei. Aus seinem Winterschlaf. In Lempäälä wäre er nun unterwegs. Sehe ich auf den meterhohen Schnee, könnte man eher in Winterschlaf fallen, aber es ist bereits der erste zarte finnische Sommer. Ein paar Grad über null, Sonne pur, der schönste blaue Himmel und schon erwachen Bären. Und auch die Finnen sind erwacht. Sie sitzen bereits eifrig in der Sauna, sind rot von der Sonne und vom eiskalten 1° Grad kalten Wasser und feiern den finnischen Sommer. Dass der Sommer noch einmal von Schneeeinbruch etwa am 1. Mai unterbrochen wird, ist allen so gut wie klar. Umso überschwänglicher nutzt man die Freisitze, Treppen, Pipelines, überall lungert man, zeigt man sich, und die Erstsemester laufen seit einer Woche in ihren gepatchten Overalls herum, einst von Schweden erfunden, um am Festtag Vappu, dem ersten Mai, ihre offizielle Studententaufe zu erleben. Ganz öffentlich steckt man Mädchen und Jungs in einen Korb und taucht den am Kran hängenden Behälter ins Eiswasser der Stromschnellen zwischen den zwei Seen der Stadt. Wie gesagt, man weiß, wie sicher der Schneeeinbruch am ersten Mai kommt…und in diesem Jahr gibt es bereits meterhohen Schnee zu verzeichnen. Damit sich keiner erkältet, wirft man die Lernenden sofort danach und mit allen Klamotten in die heiße Sauna. Der Höhepunkt für die Jugend, da es mit Unmengen erlaubten Alkohols einhergeht. Frei nach dem Motto: Ein guter Student ist auch ein guter Trinker. Der Bär ist also in jeder Hinsicht im April aufgewacht. „Er greift nicht an“, sagt Roger. „Und wenn man ihm begegnet?“, frage ich, „was macht man dann?“. „Man brüllt, dann geht er schon weg.“ Diese Antwort ist eher typisch finnisch als belgisch. Kurz und bündig und selbstsicher. Mit diesem Rat in den Gedanken, trete ich am 22. April meine kleine Wanderung durch den tief verschneiten Wald an. Vorbei an Sommerhäusern, Birken, Amseln, Birken, Seen, Birken, Möwen, Birken, Elstern, Birken, Kohlmeisen, Birken, Felsen, Birken, Schneebergen, Birken….kein Bär weit und breit. Aber Schnee die Fülle. Es ist mein Geburtstagsspaziergang, ein runder Geburtstag, den ich hier in Finnland feiern darf. Das ich hier bin, ist ein Wunder. Wie lange wünsche ich mir schon, in Finnland zu sein, immerhin schreibe ich auch finnische Gedichte. Aber bisher hatte ich es einfach nicht geschafft. Und wie oft wurde ich in letzter Zeit gefragt, was ich wohl an meinem „runden“ Geburtstag machen will. Und dachte immer: eigentlich sollte ich…, würde aber lieber… und dann der Anruf von Claudia, der Frau von Roger, Dozentin und Organisatorin des Deutschen Kulturzentrums der schönen Stadt Tampere. Sie fragte mich, ob ich spontan für ein Kurzstipendium nach Finnland kommen wolle… ich habe sofort zugesagt. Empfohlen durch einen Autorenkollegen. Es kam so passend wie ein Bus, auf den man lange in der Gegend von Lempäälä wartet, in der Hoffnung, dass er nicht zu früh da war und man nun die nächsten Stunden im winzigen Bushaltestellenhäuschen überwintern muss. Das Wunder überschlug sich mit anderen Ereignissen, wie der vorangegangen Trennung von meinem Freund, dem runden Geburtstag, meinem neuen Verlag, meiner Zusage für meinen Debutroman, mit der allgemeinen Niederlegung aller Corona-Verordnungen, der erneuten Wahl Macrons und dem Ukraine-Krieg und der Frage nach dem Nato-Einstieg der Nordländer. Finnland. Mein Wunder. Der 22. April ist auch der Geburtstag von Lenin, der einst in Tampere mit dem noch nicht durchgedrehten Stalin auf einem Sofa saß und Konversation hielt. Aber von den Russen will man gerade wegen der Ukraine-Krise nichts wissen, auch wenn das Häuschen, in dem ich hier wohnen darf, wie eine Hütte im Buch von Dostojewski aussieht und man hier Tolstoi verfilmen könnte. Nicht mal diese beiden Heroen der einfachen Bauern-Menschen darf man hier zitieren, so bedauerte auch Claudia, mit der ich am Abend zuvor in der kleinen irischen Bar sitze und Wein trinke, nach dem ich mir den 4,5 prozentigen Weinsaft aus dem Supermarkt zu Gemüte führte und dies durch echten spanischen Wein gern hinter mir lassen wollte… Claudia, eine äußerst charmante Frau, die alle Schönheit einer Französin innewohnen hat und meine finnischen Bruchstücke zu etwas Sinnvollem umformuliert und mich mit einem vollen Kühlschrank, mit allen finnischen Köstlichkeiten in der Residenz ausgestattet hat, kommt ursprünglich aus Leipzig und kam auf Umwegen in diese Gegend. Eben auch wie durch ein Wunder, lernte sie ihren Mann, Roger den Belgier kennen. „Nach drei Tagen Aufenthalt in Finnland“, wie Roger dazu anmerkte. „Ich habe hier nur drei Tage verbracht und die Liebe meines Lebens getroffen..“ Im Angesicht der hinter mir liegenden Trennung muss ich ein wenig schlucken. Schließlich bin schon den 7. Tag da, ohne dass…aber ich bin wieder voller Hoffnung, dass dieses Land Wunder zu tun vermag. Gott wohnt in Finnland. Gott ist ein Zauberer. Satumaa – dieses Land ist ein Feenland. Ob die Fee aus Deutschland, Frankreich oder tatsächlich aus Finnland kommt, spielt dabei keine Rolle. Hier haben schon viele ihr Glück gefunden. Ein weiteres Wunder taucht wenige Meter von meinem Residenz-Haus auf meinem Spaziergang auf: ein junges Reh, das langsam an mir vorübertrabt, ohne Eile schleicht es, mich aus seinem Augenwinkel kurz in Augenschein nehmend, ja stolziert es in Richtung See, und ich wage nicht zu atmen oder mich zu bewegen. Und wieder: ein Eichhörnchen mit kuscheligem grauem Fell und frechen Augen. Auch dieses kleine Wesen hat nicht vor, vor mir davonzueilen, nein es hält inne, als wolle es etwas fragen, und als merke es, dass ich kein Finnisch spreche, hüpft es wortlos weiter. Die Begegnung mit dem Eichhörnchen ist wie alle Begegnungen mit den Finnen. Man schaut sich neugierig an, mit gebührendem Abstand, und dann geht man, ungesagter Dinge oder mit Kiitos und Moi Moi, seiner Wege. Mit dem Bären wäre deutsche Kommunikation möglich. Er würde knurren, ich könnte ihn anbrüllen, er würde zurückknurren, so wie in den sächsischen öffentlichen Verkehrsmitteln, wo ich die Ellenbogen anderer Passagiere schon des Öfteren in den Rippen hatte, weil immer jemand sich schnell und stressig hinausackern möchte aus den Bussen oder Straßenbahnen. Irgendwer knurrt sowieso immer, irgendwas passt irgendwem immer nicht, man beschwert sich in Deutschland, dass das Leben nicht so ist, wie man möchte. Und der andere soll das merken. Einmal wechselte ich im November die Autoreifen in Winterreifen, sofort standen zwei ältere Herren neben mir und murrten: na, das wird aber auch Zeit! Schlechte Laune oder Belehrungen erlebe ich hier in Finnland an keinem einzigen Tag. Man ist sogar immer noch freundlich, wenn man sich heimlich in der Wolle hat. Man rät von Kontakten mit diesem oder jenem Menschen in einer sehr eleganten Weise ab, die auch manchmal wie feine Nadelstiche wirken, aber man ist nicht wirklich böse. Man regt sich nicht auf, lässt sein Gegenüber nicht gern spüren, dass man gehetzt ist oder gereizt. Weder in Helsinki noch in Tampere. Zumindest glätten sich schnell die Wogen, so denkt man. Der Finne ist extrem entspannt und nachgiebig. Außer, wenn der Finne sich seiner Sprache gegenüber einem Ausländer bewusst wird und sie dabei nach oben hält wie eine siegreich gehisste Flagge. Dann ist er oben auf, lacht einem offen ins Gesicht, wenn man wieder einmal ein Substantiv wie eine Vokabel gelernt hat, zum Beispiel Wasser – Vesi, was aber im Zusammenhang eines Satzes, individuell zig mal gebeugt wird und man es deshalb auf jeden Fall falsch ausgesprochen hat. Der Finne nickt dann ein wenig stolz, dass die Sprache nicht gleich jedem Trottel gelingt. Und ob der Fälle zuckt er nur mit den Schultern, und sein heimliches Lächeln ist der Stolz eines Unbesiegbaren. Er nickt großzügig und belohnt jeden Versuch, finnische Brocken im Supermarkt oder im Restaurant hinzuwerfen, mit englischen Antworten und seinem reizenden Kiitos. Er sagt damit: Es ist nicht schlimm, es ist schwer, aber irgendwann schafft ihr es. VIELLEICHT! Es ist eben so, dass die Finnen sich nicht gern in die Karten schauen lassen. Gefragt nach der Situation, zwischen Russland und der NATO zu stehen, Eintritt hin oder her, lässt er sich nicht emotional zu Angst hinreißen, sondern betont kurz und sachlich, dass das Parlament schon klug entscheidet. Das wars auch schon. Man steht hinter der weiblichen Regierung und fragt den Besucher und Touristen hinterher ablenkend, ob er gern ein Korvapuusti essen möchte, Kahvi mit oder ohne Milch trinken mag. Süß sind die Finnen. Zuckerware muss einfach sein. Marko, der Musiker, den Claudia zu meiner musikalischen Begleitung organisiert hat, kommt mit samt der Technik ins „Dostojewski“-Haus und fragt sofort nach Süßigkeiten, als ich ihm Kaffee reiche. Und ach, der Kaffee war schon abgekühlt, was der entspannte Musiker nicht gerne trinkt, aber er sagt: „schlimmer als kalter Kaffee, ist gar kein Kaffee“, als ich mich aufgeregt entschuldige. Wieder spazieren gehen. Vorbei an Eisfischern, die ab und an in den Eissee fallen, erklärt mir Claudia. „Der Helikopter kreist so oft über den Seen, die Männer schätzen den angetauten See oft falsch ein“. Ich bin froh, es nicht gewagt zu haben, über den ganzen See nach Annala zu gehen. Also bleibt nur die Uimahalli, um schwimmen gehen. Bus und Straßenbahn sind gut vernetzt, und die Viertel von Tampere liegen eng zusammen. Man erreicht alles in Kürze. Auch das Schwimmbad. Man zahlt mit der Buskarte und wirft sich in den vier Meter tiefen Grund der Bahnen. Sauna ist frei, auch das ist eine Wohltat: Frei ist so alles, was in Deutschland viel Geld kostet: Wasser zum Beispiel. Immer frei, immer gut. Sehr gut. Es ist das Beste, was man trinken kann. Das beste Trinkwasser der Welt. Kaffee, Jasmintee, ebenfalls immer frei zu haben, im Restaurant für nix. Und in einigen Bistros bekommt man auch den Salat ohne eine Münze. Sie sind sowieso überaus gastfreundlich die Finnen, in allen Lokalen und in den Läden. Keiner schubst, drängelt oder fragt an der Kasse genervt nach, ob es noch was sein darf. Im Gegenteil. Wo immer eine Verkäuferin, ein Verkäufer ist, ist es fast schon Therapie. Man scherzt, weil der Deutsche das Obst wieder vergessen hat abzuwiegen, man kommt ins Gespräch über den Grund des Besuches, klärt auf, dass man statt Zahnpasta Tagescreme aufs Fließband gelegt hat, der Kunde offenbart Liebeskummer oder Ärger mit der Mutter, die Kassiererin fragt, ob man noch etwas anderes braucht und ob man wisse, wo man es erhält, denn Supermarkt ist hier nicht gleich Supermarkt. Aber sie heißen alle Supermarkt. Es gibt Supermärkte, in denen es wirklich alles gibt, nur keine Nahrungsmittel. Kosmetika aller Marken sind vertreten, Kleidungsstücke, Stühle, Regenschirme, Sonnenschirme, Besen, Handwerkszeug und: Taucheranzüge. Sucht man einen Taucheranzug, bekommt man ihn im Supermarkt. Aber erst gegenüber ist der Supermarkt, in dem man seinem Kind ein Eis kaufen kann oder eben Gemüse, Mämmi, Käse, Ren-Fleisch und natürlich Roggenbrot. Selbst im Mc Donald hat der Burger Roggenbrötchen um sich herum. Nach dem Einkauf und nach dem Essen ist es natürlich klar, was die meisten Finnen tun: wieder in die Sauna gehen. Entweder zu Hause oder in eine von den tausenden Saunas die es in ganz Finnland gibt. Und fast jede Sauna ist angeschlossen an einen See, denn auch die Seen sind großzügig und gut verteilt, so dass die Familien im Sommer alle in ihrer Nähe ohne große Autofahrt an ihren Stadt-District-See gehen können. Auch das ist ungewöhnlich für uns Deutsche, die wir uns alle an einem einzigen See tummeln, außer natürlich, wenn man in der Nähe von Schwerin wohnt… Ich habe schon drei Seen kennengelernt, wobei der eine der Heilige See ist, wie auch woanders die Seen oft Heilige Seen heißen. Wasser ist hier heilig. Im Kulturhaus erkläre ich meinen eindeutigen Wunsch nach einem Saunabesuch. Outi, eine gebildete, offenherzige Frau, klinkt sich in das Gespräch ein. Wir verabreden uns für den nächsten Tag zu einem Essen bei ihr und vorher natürlich für die legendäre Sauna in Rauhaniemi. Der Bus bringt uns wieder bis fast an das Seeufer, das noch verschneit in der Sonne liegt, und dann sehe ich es: Blockhütten, ein aufgehacktes Loch zum Baden und in Badeanzügen umherlaufende Saunabesucher. Junge, Alte, alle. Outi erzählt, ohne sich eine Pause zu gönnen, alles was ich wissen muss. „Hier kommen alle zusammen. Status egal. Geschäftsmänner, Familien, Musiker, Künstler, hier habe ich meine wichtigsten Kontakte gefunden..“ Eine traumhafte Landschaft, in der Tee, Bier und Kaffee getrunken wird, in der man zwischen Enten hektisch mit den Armen durchs Wasser rudert, um schnell wieder heraus zu kommen. Das Wasser ist eiseiseiskalt. „Es verwandelt das Körperfett in braunes gutes Fett“ erklärt Outi. Ich denke an Seehunde, als sie mir das erzählt. Beim Eintauchen in die arktische Kälte, die mir fühlbar das Blut in Würfel verwandelt, rufe ich ohne Hintergedanken mein „alter Schwede, alter Schwede, alter Schwede..!“ Stressausruf, als hinter mir Outi sagt: Das verstehen sie hier nicht, keine Angst. Ich steige aus dem Eismeer und genieße die innere Hitze, die sich sofort danach einstellt, und habe tatsächlich das Gefühl, vollkommen „braun“ zu sein in sämtlichen Hautschichten. Beim dritten Saunagang kommt mir ein Mann entgegen, mit zig Ohrringen und Zopf, den ich sofort als Gothic-angehauchten Musiker identifiziere und der Englisch spricht mit seinem Freund. Zufällig sitzen wir auf den heißen Bänken genau nebeneinander. Und weil ich mit Outi natürlich Deutsch rede, fragt sein Freund, ob ich aus Deutschland komme. Ich bejahe, Outi erzählt dem anscheinend finnischen Freund von meinem Auftrag hier, und der Zopfmann neben mir, der an einem Lederband das Wappen von Helsinki trägt, erklärt mir, dass er aus Chemnitz kommt und schon seit zehn Jahren vor lauter Liebe zu diesem Land immer nach Tampere reist. Wir lachen, denn Leipzig ist eine Stunde von Chemnitz entfernt, und wir unterhalten uns gut. Tatsächlich ist Sören, wie der Chemnitzer Landsmann heißt, auch Musiker: Gitarrist. Es gibt viel zu reden über Musik, Kunst, über Psychologie, über Sauna, Eiswasser und überhaupt über die Finnen und ihre schöne Sprache. Sören versteht eine ganze Menge von dem, was die Finnen hier erzählen. Ich staune. Sein Freund Mika, der neben ihm lacht und scherzt, bringt es ihm bei. Mika lebte drei Jahre in Deutschland. „Als LKW-Fahrer“, sagt er auf Deutsch, tingelte er durch die Lande. Ein aufrichtiger Kerl, der erst einmal für uns eine Packung Würste auflegt, denn hier gibt es einen Grill für die Allgemeinheit. Es ist mein Frühstück, und ich stopfe die außergewöhnliche Bratwurst in mich hinein und frage, ob es Elch-Wurst sei, weil sie so rot und so köstlich ist. Mika verneint. „Nein, nein, es ist etwas ganz Besonderes“, sagt er dieses Mal auf Englisch, „es ist Schwein und Pferd..“ Etwas zögerlicher beiße ich in den Rest dieser unglaublich leckeren Pferde-Wurst. Ich werde es in Deutschland keinem erzählen, denke ich. Outi, die äußerst kommunikative Freundin und Kollegin von Claudia, die mich zu diesem Saunabesuch einlud, schlägt nun vor, dass die Jungs gerne auch zum Essen zu ihr kommen können. Sie sieht sofort die Notwendigkeit dieser Verbindung. Outi und ich packen nach vier, fünf Saunagängen unsere Sachen und gehen schon mal vor. Die Jungs verweilen noch, und ich darf erstmals in einen der Neubaublöcke, die es hier in Massen gibt, hineinschauen. Normalerweise mag ich keine Neubauten. Ich selbst wohne in Leipzig in einem Altbau mit Stuckdecke und Parkett. Immer wieder sagen mir Neubaublock-Bewohner, wie schön es „von Innen“ sei. Hier in Tampere kann ich bezeugen: Es ist wahr. Als ich die Wohnung von Outi betrete, staune ich: riesengroße helle Glasfenster, viele Zimmer und eine Menge an Farbigkeit. Und zwar in den Teppichen. Outi knüpft Teppiche selbst. Im schönsten Blau, im schönsten Grün, und überhaupt ist diese Frau in vielen Dingen begabt. Das Essen ist fabelhaft. Ich esse das erste Mal Traumtorte, die ich gar nicht mehr so richtig herunter bekomme, weil ich schon vom wunderbaren herzhaften Pilzkuchen proppevoll bin. Mit Roséwein und Kaffee beenden wir dieses Festmahl, denn Outi schlägt vor, zu jenem imposanten bauschwarzen Hochhaus zu laufen, welches genau gegenüber liegt. Ein ziemlich schickes Hotel verbirgt sich in diesem Hochhaus, was wirklich ein hohes Haus ist. Wir fahren in einem Fahrstuhl in unwirklich hoher Geschwindigkeit nach oben, ich habe Angst, dass der Fahrstuhl die Etage übersieht in seinem Wahn, und sehe uns schon in den Wolken. Aber wir stehen plötzlich in null Komma nichts in der verglasten Bar, ähnlich wie der in Hongkong aus dem Film Hangover. Und egal in welche Richtung man von oben schaut: Tampere ist in jede Richtung einfach nur schön. Wir schauen auf die Arena, in der große Konzerte stattfinden, und ich wünsche mir heimlich, dort einmal zu singen. Wünsche sind in Finnland sinnvoll zu äußern, wie gesagt, scheint hier ein Zauberer zu wohnen. Auf dem Weg nach unten kommen wir an Überresten legendärer Musiker und Bands vorbei, die in Glasvitrinen aufgebaut sind: E- Gitarren, Lederjacken, Fotos und goldene Schallplatten. Und es kommt, wie es kommen musste: Wir gehen auf Vorschlag von Mika und Sören in die Karaoke-Bar. In Deutschland würde ich wahrscheinlich kein einziges Lied singen, aber hier habe ich Lust dazu. Ich möchte zum Finnen werden. Außerdem ist die Karaoke-Bar noch absolut leer: Wir sind die ersten Gäste. Etwas was man in einer Disco, in einem Dance Club nie machen würde: der erste sein, die leere Tanzfläche durchschreiten. Aber für uns ist es lustig, wir suchen uns Songs raus und singen, was das Zeug hält. Rio Reiser, Heino, Tom Waits, Nick Cave und Unmengen an finnischen Liedern, die ich einfach ausprobiere mitzusingen. Es ist enorm lustig, auch ohne Alkohol. Und ich staune, dass die Finnen mit ihren angeblichen Alkohol-Vorlieben mir irgendwie nicht begegnen. In Deutschland sehe ich ständig Betrunkene, auf keiner Party darf der Alkohol fehlen, hier ist es anders. Hier ist Alkohol etwas Besonderes und teuer und wie schon erwähnt, kann man den Alkohol nicht einfach so im Supermarkt kaufen. Zumindest nichts, was über fünf Prozent enthält. Was für eine herrliche Sauna- Bekanntschaft. Und so gehen wir inspiriert und angeregt voneinander unsere Wege zu den Bussen, die uns durch die Nacht jeweils in unsere Quartiere bringen, ausgestattet mit Kontaktdaten.
Und da ist er wieder am nächsten Morgen: Schon in aller Frühe sehe ich ihn aus dem Schlafzimmerfenster: der Schöne, der mich hier schon am Karfreitag begrüßte: der Wildhase. Eigentlich ist es nicht nur einer, es sind viele. Mit ihren langen Läufen und Löffeln rennen sie hier durch den Garten, am Haus vorbei, bleiben ein wenig hinterm Haus vor dem Fenster stehen, rennen zum Baum rechts, dann zum Baum links, und dann eilen sie in den Wald davon. Die Hasen sind meine Freunde geworden, genauso wie die Eichhörnchen, Rehe und eine Art Vogel, den ich hier erstmalig gesehen habe, wahrscheinlich ein Wiesenpieper. Und alle Tiere verstehen sich. Auch die Möwen mit ihrem unverkennbaren Lachtönen lassen den Elstern ihren Raum. Die Menschen führen zurzeit nicht weit von hier Krieg, aber die Tiere machen ihren Frieden. Seit heute Morgen hat sich auch ein Specht dazugesellt, der mich nicht länger als 7:00 Uhr schlafen lässt. Er klopft deutlich, als würde er auch einen Kaffee wollen. Und so geht es von vorne los: der Kahvi, schwarz. Rettet den Tag. Und das ist gut so, denn ich habe hier zu tun. Schreiben, lesen, neue Lieder, das alles muss und kann entstehen. Ich möchte wiederkommen. Dieses Land ist nicht nur Liebe auf den ersten Blick, es ist eine Liebe des Lebens oder ein Rakkauslaulu, mit all den wunderbaren Menschen aus dem deutschen Kulturzentrum, aus der deutschen Bibliothek in Helsinki, den Einwohnern in Tampere und nicht zu vergessen dem Bären, den ich noch nicht gesichtet habe, und den Tieren rings um die Residenz, der DOSTOJEWSKI VILLA.

POEM

Hase
Schnee
Birke
Eichhörnchen
Steine
Elster
BirkeBirke
Eichhörnchen
Steine
See
Schnee
BirkeBirkeBirke
Quelle
Felsen
BirkeBirkeBirkeBirke
Hase
Elster
Eichhörnchen
Schnee
BirkeBirkeBirkeBirkeBirke
Der Bus!
Verpasst
Vergessen
die Hand rauszuhalten….