Aus: Paradise City. Suhrkamp, 2020.
1.
Die Luft ist kühler als in der Stadt, es sind nur dreiunddreißig, vielleicht fünfunddreißig Grad. Es riecht nach Wald. Sie hört einen Specht hämmern, einen Kuckuck rufen. Sie steht noch einen Moment einfach da und lauscht, hört andere Vögel, versucht, sie zuzuordnen. Ihr Gesang füllt die Stille. Liina weiß, dass sie der einzige Mensch weit und breit ist.
Eine Birke liegt quer über der Straße, rundherum einzelne Äste. Das letzte Sommergewitter ist eine Woche her, seitdem ist niemand diese Straße entlanggefahren. Über ihr rauscht es, sie sieht auf zu einem Schwarm blaugrüner Papageien. Das Rauschen verschwindet mit ihnen hinter den Baumwipfeln. Liina räumt erst die losen Zweige weg, will dann den Baum beiseiteschieben, packt mit beiden Händen einen dickeren Ast, zerrt daran. Der umgestürzte Baum bewegt sich ein paar Zentimeter, vielleicht eher Millimeter, mehr schafft sie nicht. Ein anderer Geruch breitet sich aus, ekelhaft süßlich. Fliegen schwirren davon, und Liina lässt von dem Baum ab und weicht zurück. Die verrottenden Überreste eines Wolfs. Sie stößt unwillkürlich einen Laut aus, den niemand hört, atmet durch, nimmt einen zweiten Anlauf und zerrt die Birke mit dem Kadaver darunter gerade weit genug beiseite, um mit dem eMobil daran vorbeischleichen zu können. Bevor sie aufsteigt, bleibt sie eine Weile im Schatten stehen und schließt die Augen, wartet, bis ihr Herz ruhiger schlägt. Zu viel Anstrengung tut ihr nicht gut. Ihr Oberteil ist durchgeschwitzt, die kurze Hose klebt an ihr. Sie setzt sich auf das Fahrzeug.
Unterwegs versucht sie, ihren Chef zu erreichen. Er antwortet nicht. Er wird wissen, was sie ihm sagen will: Sie versteht nicht, warum er sie in die Uckermark geschickt hat, um eine Geschichte zu überprüfen, die an Reizarmut kaum zu überbieten ist. Sie fühlt sich verarscht.
Wäre sie er, sie würde auch nicht antworten.
Eine halbe Stunde und einen Beinahezusammenstoß mit einem Reh später findet sie die kleine Ortschaft, in der sie ihre Kontaktperson treffen soll. Das Ortschild ist abmontiert, nur das leere Gestänge begrüßt sie. Die grauen Häuser rechts und links sind verlassen, teilweise in sich zusammengestürzt. Zerbrochene Fensterscheiben, wo noch Fenster sind, mit Brettern verrammelte Türen, hinter denen es nichts mehr zu holen gibt. Die Vorgärten am Straßenrand sind überwuchert. In ehemaligen Garagenauffahrten blühen wilde Kräuter, Bäume wachsen aus Geräteschuppen. Von der Hauptstraße gehen keine Seitenstraßen ab. Sie muss einem Rudel Katzen ausweichen, weil sich die Tiere mitten auf der Straße sonnen und keinerlei Anstalten machen abzuhauen.
Liina hält vor der Dorfkirche und steigt ab. Es ist hier genauso still wie im Wald, nur Vogelgezwitscher, das Surren von fetten Bienen und Hummeln. Sie bleibt einen Moment stehen und sieht sich um. Der Schaukasten vor der Kirche ist leer, ein blauer Schmetterling, die Flügel so groß wie ihre Hände, landet für einen Herzschlag darauf. Die Kirchentür steht halb offen und sieht aus, als stehe sie immer halb offen. Sie hört Männerstimmen hinter der Kirche. Liina schiebt ihre Sonnenbrille ins Haar und ruft den Namen der Kontaktperson. Er ruft zurück: »Hier hinten!« Sie schiebt sich die Sonnenbrille zurück auf die Nase.
Hinter der Kirche ist der Friedhof, mit mehr Grasfläche als Gräbern. Seit zwei Jahrzehnten ist hier niemand mehr beerdigt worden. Eine Steinmauer umgibt ihn, die an mehreren Stellen bereits einsehen musste, dass die Bäume, die innen wie außen wachsen, stärker sind. Drei Männer mittleren Alters sitzen auf einer grün gestrichenen Holzbank in der Mittagshitze und blinzeln in die Sonne. Liina lächelt und streicht ihr Top glatt, zupft an den Shorts, fährt sich mit den Fingern durchs Haar, so dass die Männer es mitbekommen. Sie sollen glauben, dass es der Frau aus der Hauptstadt wichtig ist, was sie von ihr denken.
Die drei sind jünger, als sie dachte, das sieht sie erst, als sie vor ihnen steht. Vielleicht sind sie in ihrem Alter, Anfang dreißig. Ihre Körperhaltung lässt sie allerdings älter wirken – wie sie gekrümmt dort sitzen und ächzend die Beine ausstrecken.
Sie heißen Karl, Fritz und Igor, und es ist Igor, der behauptet, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie eine Frau vor zwei Tagen von einem Schakal zerfetzt worden ist. Igor hat es damit in die staatsweiten Nachrichten geschafft und ist so zum wohl berühmtesten Bewohner der Uckermark aufgestiegen. Er zeigt ihr die Kratzer an seinem Unterschenkel, die von dem gefährlichen Tier stammen sollen, aber bereits deutlich abgeheilt sind, was er bedauert. Wenigstens hat er noch Fotos davon, die er ihr zeigen kann. Auf einem sind oberflächliche Kratzer zu sehen, die genauso gut von einer Gabel stammen könnten. Ein dünner Blutstropfen scheint aus einem der Kratzer hervorzusickern. Auf einem anderen ist das Bein mit einem weißen Verband dick umwickelt, er sitzt auf derselben Bank wie jetzt und hält strahlend beide Daumen hochgereckt in die Kamera. »Der Star der Uckermark«, nennt ihn sein Freund Fritz, und Karl zaubert aus einer altmodischen Kühltasche unter der Bank ein paar Bierflaschen hervor. Liina lehnt höflich bedauernd ab. Etwas anderes bieten sie ihr nicht an.
Die Männer denken, dass sie Karin heißt und Zoologin ist. Sie lächelt pausenlos, nicht zu selbstbewusst, eher etwas schüchtern, während sie sich die Geschichte mit dem Schakal noch einmal erzählen lässt. Der Wortlaut ist nahezu identisch mit ihrem Vorgespräch am Morgen und entspricht dem, was Igor in den Nachrichten aufgesagt hat. Liina zeigt ihm Bilder von Wölfen, Kojoten, Luchsen, Schakalen und sogar Hyänen und will wissen, welche Sorte Schakal es denn war. Nach einigem Zögern, Blinzeln und Augenreiben zeigt Igor selbstbewusst auf das Foto eines etwas zerrupft aussehenden Fuchses. Mit Kennermiene nennt er ihn »Goldschakal«, und Liina nickt feierlich.
Man einigt sich darauf, wie schrecklich der Vorfall war und dass dringend etwas gegen die Wildtiere hier draußen getan werden muss, Wildschweine, Wölfe, auch Bären gäbe es wieder, was komme als nächstes. Liina gibt vor, die Bedenken der Männer sehr ernst zu nehmen und versichert ihnen, dass sie als Zoologin in Regierungskreisen einen guten Ruf genießt und deshalb die Probleme der Region bei nächster Gelegenheit ansprechen wird. Karl, Fritz und Igor leeren ihre Bierflaschen und berichten dabei von ihrem Alltag als hartem Überlebenskampf, drei Männer ganz allein im Dorf, die nächsten Menschen zehn Kilometer entfernt, alles schwierig, aber man kommt klar und will nicht jammern, irgendjemand muss ja die ländlichen Strukturen aufrechterhalten, auch wenn es die Regierung kritisch sieht und auf Umsiedlung drängt. Die Zoologin aus der Hauptstadt zeigt sich tief beeindruckt von so viel Unabhängigkeit.
Liina spielt Karin wie all ihre Rollen perfekt bis in die kleinsten Gesten. Manchmal kommt es ihr vor, als sähe sie sich selbst wie durch eine Kamera. Du solltest Schauspielerin werden, sagte ihre Schwester früher manchmal zu ihr, wenn sie sie durchschaute.
Liina lässt Karins Lächeln auf Höhe der Kirche, kaum dass sie außer Sichtweite ist, sterben. Sie setzt sich auf das eMobil und fährt zurück nach Prenzlau. Wieder versucht sie, ihren Chef anzurufen, bekommt nicht einmal ein Kontaktzeichen. Der Empfang in dieser entvölkerten Gegend ist alles andere als optimal. GPS, Galileo, alles funktioniert nur mit Unterbrechungen, die Geschwindigkeit der Datenübermittlung – sofern etwas übermittelt wird – ist zum Weinen.
Gestern sagte er ohne Vorwarnung: »Es gibt eine Planänderung, du musst in die Uckermark. Hier sind die Infos, du wirst mit zwei Personen reden, aber nimm dir Zeit, vielleicht ist noch mehr an der Sache dran.«
Natürlich hatte Liina längst von der Meldung gehört. Sie hält sie für Regierungspropaganda, um irgendein Programm für den Tierschutz streichen zu können, weil es zu teuer geworden ist. Die großen Umweltziele werden nicht angetastet, aber die kleineren Maßnahmen lassen sich nach und nach ausdünnen. Und es gibt noch ganz andere Interessen, die hinter einer solchen Meldung stehen könnten: Menschen, die in Randlagen wohnen, sollten Waffen mit sich führen dürfen, fordern einige. Das Jagen und Schießen von Wildtieren müsse wieder erlaubt werden.
In diesem Jahr gab es bereits mehrere Geschichten dieser Art. Einmal hieß es, mehrere Wildschweinhorden hätten vor München mindestens zehn Hektar Ackerland komplett zerstört und dadurch für empfindliche Ernteeinbußen gesorgt. Eine oberflächliche Recherche hat allerdings gezeigt, dass in Wirklichkeit der Boden nicht ausreichend gewässert worden war – was in den Zuständigkeitsbereich des Landwirtschaftsministeriums fällt. Von dort kam die Wildschweinmeldung. Vor zwei Monaten tötete angeblich ein Bär mehrere Hühner eines Bauernbetriebs. Dabei waren die Hühner den nicht eingehaltenen Hygienebestimmungen zum Opfer gefallen. Abgesehen davon sind Tierfarmen so gut gesichert, dass kein Bär auch nur in ihre Nähe kommt. Der für Tierschutz zuständige Minister hält es aber für kontraproduktiv, so etwas der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Natürlich ist auch an der Schakalgeschichte kein Wort wahr. Liina versteht nicht, warum ihr Chef sie mit dieser Sache langweilt und nicht jemanden mit deutlich weniger Rechercheerfahrung. Offenbar will er sie eine Weile aus dem Weg haben. Oder es soll ein Denkzettel sein. Sich unterzuordnen ist nicht unbedingt ihre größte Stärke.
Sie nimmt exakt denselben Weg zurück, um nicht wieder Hindernisse wegräumen zu müssen oder am Ende noch in einem Schlagloch zu landen. Ihr gefällt es, durch die Sonnenstrahlen zu gleiten, die durch die Bäume brechen. Erst kurz vor Prenzlau lichtet sich der Wald wieder, wie vor jeder größeren Ortschaft sind erst Solaranlagen und Windräder, dann Gewächshäuser, Felder und Tierfarmen zu sehen.
Liina gibt das eMobil beim Verleih am Bahnhof zurück. Die Hitze macht ihr heute noch mehr zu schaffen als sonst. Ihr ist etwas schwindelig, und sie versucht, im Schatten zu bleiben. In einem Shop lässt sie sich Wasser nachfüllen, danach setzt sie sich im Stadtpark an den Fuß des Seilerturms und trinkt langsam ihre Flasche aus. Sie lehnt sich an die Mauer und schließt die Augen. Fünf Minuten Ruhe, mehr will sie gar nicht.
Dann steht sie auf und wird wieder zu Karin, der Zoologin, die wissen will, warum ein Schakal einen Menschen anfällt. Sie geht zum Gesundheitszentrum, in dem Dr. Ortlepp, die Ärztin, die die Tote untersucht hat, ihre Praxis hat.
Das Wartezimmer der Ärztin ist leer. Der medizinische Fachangestellte sagt ihr, dass es trotzdem eine Weile dauern kann, weil gerade Telesprechstunde ist.
Liina setzt sich so, dass sie aus dem offenen Fenster auf den Uckersee schauen kann. Mitten im Raum steht ein Ventilator, Klimaanlagen sind schon seit Jahren verboten, sie erinnert sich nur dunkel aus Kindertagen an sie. In den Tisch vor ihr ist ein Display eingelassen. Es zeigt Informationen zu Impfungen, Ernährung und Nahrungsergänzungsmitteln, Schwangerschaftsverhütung und Schwangerschaftsabbrüchen, zum Gesundheitschip und warum man ihn sich implantieren lassen soll. Außerdem kann man sich eine Übersicht auf sein Smartcase laden, auf der die wichtigsten Erste-Hilfe-Maßnahmen erklärt sind. Ein Krug mit Wasser steht auf einem zweiten Tisch, daneben saubere Gläser. Liina nimmt sich eins, füllt es auf. Der MFA sieht zu ihr rüber, lächelt und scheint zu sagen: Trinken ist wichtig, besonders bei der Hitze. Sie ist froh, dass er es nicht laut sagt. Er ist knapp über fünfzig, wirkt aber so viel jünger und gesünder als die drei Männer auf der Friedhofsbank. Freundlicher und intelligenter außerdem. Liina nickt ihm zu, trinkt das Glas in einem Zug leer, macht sich eine Notiz: Waffenlobby checken? Dann löscht sie die Notiz. Die Geschichte interessiert sie nicht. Die Geschichte ist keine Geschichte. Sofort regt sich aber ihr schlechtes Gewissen, und sie gibt die Notiz wieder ein.
Wieder überkommt sie Müdigkeit. Sie will jetzt nicht einschlafen, aber wenig später schreckt sie verwirrt auf und muss sich erst einmal orientieren. Sie sieht zu dem MFA rüber, der sie nicht zu beachten scheint. Liina richtet sich auf, nimmt das Smartcase und sieht sich den Film an, den sie mit der Brillenkamera von ihrem Gespräch mit Igor gemacht hat. Die Qualität ist einwandfrei, alle drei sind gut zu erkennen. Wie Igor beherzt auf den Fuchs deutet: besser kann man es sich nicht wünschen. Liina nimmt die Sonnenbrille, die sie sich in die Haare geschoben hat, und steckt sie in den Ausschnitt ihres Tops.
Sie konzentriert sich auf ihre Rolle. Sie muss Karin spielen, weil sonst niemand mit ihr reden würde. Niemand spricht freiwillig mit den »Fanatikern« von der »Wahrheitspresse«, das gibt nur Ärger. Die staatlichen Nachrichtenagenturen beherrschen die Medienlandschaft, unabhängiger Journalismus wird von den offiziellen Stellen möglichst in Verruf gebracht, natürlich mit dem Vorwurf, alles andere als unabhängig zu sein: Die Finanzierung ist nur noch durch private Geldspenden teilweise aus dem Ausland möglich. Natürlich zahlt niemand für Nachrichten. Die meisten Leute scheint es nicht zu interessieren, ob wirklich stimmt, was berichtet wird. Es lügen doch sowieso alle. Wir können es ohnehin nicht ändern. Wozu im Dreck wühlen, wenn es uns doch gut geht.
Der Mensch glaubt sowieso nur, was er glauben will.
Der MFA ruft sie auf und weist ihr den Weg ins Behandlungszimmer.
»Dr. Müller«, sagt die Ärztin zu Liina und erhebt sich halb.
Liina nickt und lächelt und streckt die Hand aus. »Karin Müller«, sagt sie, lässt den Doktor weg, als fände sie den Titel unnötig, quasi unter Kolleginnen. »Freut mich sehr, Dr. Ortlepp, und danke, dass Sie sich die Zeit nehmen.«
Die Ärztin setzt sich wieder, deutet auf den Platz vor ihrem Schreibtisch. Sie faltet die Hände, zieht die Augenbrauen hoch und schnauft. »Was kann ich für Sie tun?« Sie sieht erschöpft aus. Und als wolle sie am liebsten sofort nach Hause. Vielleicht liegt es an der Hitze. Die Frau geht auf die sechzig zu. Sie trägt das Haar kurz und bemerkenswert mahagonifarben, ihre Augen sind braun. Keine Brille, ein klein wenig Augen-Make-up. Praktische Kurzarmbluse in hellblau, praktische weite weiße Stoffhose. Der MFA trägt dieselbe Farbkombination.
»Wir hatten ja bereits gesprochen. Ich wollte Ihnen ein paar Fragen zu den Schakalbissen …«
»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen«, unterbricht Dr. Ortlepp.
Liina hat mit Abwehr gerechnet, sie nickt verständnisvoll. »Ich möchte nichts über die Patientin wissen, mich interessiert nur, ob es sich wirklich …«
»Ich habe die Frau gar nicht untersucht. Deshalb kann ich Ihnen nichts sagen. Ich war nicht dort.«
»Oh, aber in unserem Vorgespräch …«
»Sie haben gefragt, ob Sie vorbeikommen können, weil ich in der Nacht Notdienst hatte. Ich habe Ja gesagt. Sie haben mich nicht gefragt, ob ich die Frau untersucht habe.«
Liina reißt sich zusammen, bemüht sich, in der Rolle zu bleiben. Dr. Ortlepp mauert, sie lügt, aber Liina ist noch nicht klar, warum. Sie macht »Ah …«, nickt, überlegt, wie sie weiter vorgehen soll.
Die Ärztin nimmt ihr die Entscheidung ab, redet in belehrendem Tonfall weiter. »Notdienst auf dem Land bedeutet: Man ist für ein riesiges Gebiet zuständig, das man unmöglich allein abdecken kann. Es gibt zwar Notfallpersonal an verschiedenen Außenposten, die näher dran sind, aber ich bin die einzige Ärztin. Es kann passieren, dass alle paar Minuten eine Meldung reinkommt. Nicht wenige nutzen den Dienst, weil sie kein Krankenhaus und kein Gesundheitszentrum in der Nähe haben, oder weil sie die Telesprechstunde verpasst haben.«
»Das muss schrecklich anstrengend für Sie sein.« Liina nickt. Die Ärztin will erstmal Verständnis. Ein wenig Mitleid. Allgemeines Lob. »Aber auch großartig, dass Sie das machen. Und dass es technisch möglich ist, auf diesem Weg alle zu versorgen. Wie läuft denn so ein Notruf genau ab?«
»Ganz oft sind es, wie gesagt, keine echten Notrufe. Jemand pingt mich an und streamt die Situation. Ich sehe es mir auf dem Monitor an und entscheide, ob die Person zu mir kommen muss, ob es reicht, ihr einfach nur etwas zu verordnen oder einen Ratschlag zu geben, oder ob besser jemand von einer nahegelegenen Notfallstation einrückt. Das geschieht dann bei den echten Notfällen. Ich habe vor zwei Tagen den freiwilligen Sanitäter von der Station in Brüssow informiert. Er sollte die Erstversorgung und den Transport hierher übernehmen.«
»Dann haben Sie die Frau also später untersucht?«
»Nein, sie war schon tot, als der Sanitäter eintraf. Sie wurde vermutlich direkt in die Rechtsmedizin gebracht. Ich hatte gar nichts damit zu tun.«
»Konnten Sie die Bisswunden sehen? Waren es wirklich Bisswunden?«
Die Ärztin sieht aus dem Fenster. »Das ließ sich nicht erkennen.«
Liina nickt enttäuscht. »Kann ich mit dem Sanitäter sprechen? Oder haben Sie vielleicht den Namen der Toten?«
Die Ärztin zögert.
Liina winkt ab. »Datenschutz. Natürlich.«
Dr. Ortlepp zeigt auf Liinas Ausschnitt. »Wie kommen Sie zurecht?«
Einen Moment lang glaubt Liina, aufgeflogen zu sein. Das Kameraauge auf dem Brillenrahmen ist eigentlich nicht zu erkennen. Es sieht aus wie eine Verzierung, aber wer misstrauisch genug ist, wird sich denken, dass so ziemlich jeder Gegenstand zum Spionieren umgebaut sein kann. Dass jedes Gespräch heimlich aufgezeichnet wird. Diese Ärztin ist misstrauisch. Liina greift nach der Brille, ihre Finger streifen über die dünne Narbe zwischen den Brüsten. Die Brille hat den Ausschnitt weit genug heruntergezogen, dass die obersten Millimeter sichtbar sind.
»Vertragen Sie die Hitze?«
»Es geht. Ich bin manchmal müde. Heute besonders.«
»Wie lange ist die Operation her?« Die Ärztin sieht sie durchdringend an.
»Da war ich zweiundzwanzig.« Beim Lügen immer nah genug an der Wahrheit bleiben. Oberste Regel.
»Keine Komplikationen? Immunsuppressiva?«
»Ganz gering dosiert. Ich komme gut klar.«
»Soll ich Sie mal scannen? Sie sagen, Sie sind heute besonders müde.«
»Nein, wirklich. Es geht mir hervorragend.« Liina reicht es jetzt mit dem persönlichen Touch. Sie lächelt und macht eine wegwerfende Handbewegung. »Man wird heutzutage so gut betreut.« Als sich der Gesichtsausdruck der Ärztin fast unmerklich verändert, weiß sie, dass sie einen wunden Punkt getroffen hat. »Aber das wissen Sie natürlich am besten«, schiebt sie mit begeisterungsschwangerer Stimme nach. Jetzt hat sie etwas über Dr. Ortlepp erfahren. Diese Frau steht dem System kritischer gegenüber, als sie bereit ist zuzugeben. Interessant.
Die Ärztin legt die Hände flach auf den Schreibtisch. »Sie werden auch in Brüssow nichts Neues erfahren, weil man Ihnen keine Auskunft geben darf. Mit dem Sanitäter können Sie unmöglich reden.« Sie steht auf, macht eine ausladende Geste Richtung Tür. Das Gespräch ist beendet.
Liina verabschiedet sich, bedankt sich noch einmal dafür, dass sie vorbeikommen durfte. Sie versucht, nicht zu manisch zu lächeln, was ihr manchmal passiert, wenn sie frustriert ist und dagegen anspielen muss. Dr. Ortlepp begleitet sie zur Tür, treibt sie fast schon vor sich her, als könne sie es nicht erwarten, sie endlich loszuwerden. Dann legt sie eine Hand auf die Klinke, die andere auf Liinas Rücken, beugt sich über ihre Schulter und flüstert: »Es gibt diese Frau nicht.« Sie reißt die Tür auf, schiebt Liina über die Schwelle und ruft ihrem MFA zu: »Wir sind hier fertig. Den nächsten Termin, bitte.«
Hinter Liina knallt die Tür zum Behandlungszimmer ins Schloss.
(c) Zoë Beck: Paradise City. Suhrkamp Verlag, 2020