Susanne Stephan: Am Abklingbecken der Utopie

Auf einmal werde ich nostalgisch. Drehe mich, als ich zum Bahnhof zurücklaufe, noch einmal, zweimal, zur weißen Dampfwolke überm Kühlturm um, die hier lange zum Landschaftsbild gehörte, aber sehr bald, bis zum nächsten Morgen, nach der Abschaltung des Reaktors Neckarwestheim II um Mitternacht, verschwunden sein wird. Merkwürdiger sentimentaler Reflex – bei einem Kernkraftwerk! Eigentlich sollten die letzten drei deutschen Reaktoren bereits Ende des Jahres 22 stillgelegt werden, aber wegen eines möglichen Energienotstands gab man ihnen noch eine Frist bis kurz nach Ostern 23. (Bis zu dem Tag, an dem – bemerkenswerte Koinzidenz – in Finnland der Reaktor Olkiluoto 3 in Betrieb genommen wird.) Die Weichen waren jedoch längst auf eine endgültige Abschaltung gestellt. Auch für diesen Reaktor hier, der 1989 als letzter deutscher Atommeiler ans Netz ging und den ich heute noch einmal umrundet habe, während auf dem Parkplatz zahlreiche Initiativen ein „Abschaltfest“ feierten.

Weiß steht die Wolke über der Reaktoranlage, vor der Kulisse des beschaulichen Ortes Neckarwestheim und des träge dahinfließenden Neckars: scheinbar sauber und harmlos. Sie ist selbst nicht radioaktiv, davon bin ich überzeugt, die Kühlung der durch Kernspaltung erzeugten Dämpfe erfolgt über getrennte Rohre, aber sie zeigt doch einen aktiven Reaktor an (was ein wenig klingt wie aktiver Vulkan). Im Innern laufen Prozesse ab, die, hätten im (ich weiß) unwahrscheinlichen Fall einmal alle Sicherungssysteme versagt, die Region bis nach Stuttgart radioaktiv verseuchen können. Aber von hier kamen auch einmal bis zu 30 Prozent des Stroms unseres Bundeslandes – den die Industrie und wir selbst in Fülle verbraucht haben: in Elektrogeräten aller Art, in Computern wie E-Autos.

Flussabwärts hat der Neckar ein weiteres, älteres Kernkraftwerk gekühlt: Obrigheim. Mein Vater arbeitete dort als Physiker, „von der ersten bis zur letzten Kilowattstunde“, wie er selbst gerne stolz verkündete, auch wenn er bei der Abschaltung im Jahr 2005 bereits in Rente war. Damals hat mich die Stillegung kaum berührt, der Reaktor war vielleicht wirklich etwas in die Jahre gekommen. Doch jetzt war in Deutschland nach rund sechzig Jahren endgültig Schluss mit der einstigen großen Energiehoffnung Kernkraft. Nach der Kühlwolke würde einige Monate später auch das blaue Leuchten im Abklingbecken verschwunden sein, in dem die verbrauchten Brennstäbe aus dem Reaktor zum Abkühlen lagern. Während um sie herum bereits die Demontage der gesamten Anlage beginnt, die sich über Jahre, Jahrzehnte hinziehen wird. Ja, die schöne weiße Wolke löst sich in Luft auf, aber es bleibt mächtiger Beton zurück, zum Teil stark verstrahlt, es bleiben Castoren voller Atommüll: die Quittung für unser allzu schönes Leben? War es nun ein großer Irrweg, der enorme Summen Geld forderte, oder die doch substantielle energetische Basis unseres Lebens seit den fünfziger Jahren? Beides, könnte man sagen, und sich reuig an die Brust schlagen.

Und doch habe ich bei meinem Spaziergang um das Kernkraftwerk nahezu wehmütig auf das Summen und Sirren gelauscht, das von den Turbinen des Maschinenhauses ausging. Noch, bis Mitternacht. War dies nicht einmal der „Sound der Zukunft“? Galt es nicht einmal als ein großer Fortschrittssprung, dass hier nicht Kohle-Dampfkraft wirkte, sondern eine Energie aus dem Innern der Atome? Als Kinder bekamen wir zu Weihnachten Bücher geschenkt wie Die großen Stunden der Physik oder Die geheimnisvolle Welt der Strahlen. Darin konnte ich lesen: Uran in der Größe eines deutschen Pfennigs reicht aus, eine Großstadt ein Jahr lang mit Strom zu versorgen. Dem Pfennig gegenübergestellt waren Güterwagen voller Kohle und ein Schornstein, aus dem dunkle Wolken traten. Die friedliche Nutzung der Kernenergie, von Herbert George Wells in seinem 1914, weit vor der Entdeckung der Kernspaltung, erschienenen Roman Befreite Welt/The World Set Free antizipiert, war zunächst eine eher „linke“, sozialistisch-utopische Forderung. Der Philosoph Ernst Bloch feiert sie in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung als Erlösung vom Fluch der Arbeit wie vom kapitalistischen Kohle-Imperium. Heute sitzen die lautesten Atomkraftbefürworter in Deutschland im Rechtsaußen-Lager. Die Debatte war seit langem nur noch von Parteipolitik bestimmt und auf Reizworte reduziert: Atommüll! De-Industrialisierung! Super-GAU! Aber die Kohle tötet auch!

Vielleicht erwarte ich von meiner kleinen Wanderung ein wenig mehr Klarheit, was meine oft diffuse Haltung zur Kernenergie, ein laues Einerseits-Andererseits, betrifft? Auch wenn es in Deutschland nicht mehr viel zu diskutieren gibt. Oder hoffe ich, besondere Resonanzen zu spüren, wie sie der deutsche Schriftsteller Lutz Seiler in Bezug auf seine Heimatregion beschreibt? In manchen Gegenden in Ostthürinngen, wo jahrzehntelang Uran für sowjetische Atomkraftwerke wie Atombomben abgebaut wurde, seien durch die leicht erhöhte natürliche Radioaktivität bei den Menschen besondere „Bewusstseinszustände“ zu beobachten, erzählt Seiler: eine gewisse Schläfrigkeit, aber zugleich geschärfte Sensibilität, wie in einem Wachtraum. Obwohl ich weiß, dass in der Nähe eines Kernkraftwerks kaum eine erhöhte Radioaktivität messbar ist: Mein Vater war im Reaktor Obrigheim zuständig für Strahlenschutz und Reaktorsicherheit; der eigene Garten diente ihm als ein Punkt im Netz der ständigen Umgebungsüberwachung, wozu er ein Dosimeter in einen Apfelbaum hängte. Aber vielleicht sehe ich, über die Kernenergie nachdenkend, auch meine Kindheit in einem anderen Licht? Als Kind habe ich gern verkündet: Mein Vater macht Strom. Während meine Freundin von gegenüber, Bürgermeisterstochter, damit drohte, dass ihr Vater, sollte sie jemand schubsen oder schlagen, sofort die Polizei rufen könne, war mein Trumpf: Mein Vater stellt euch, wenn er will, den Strom ab! Das hielt ich für wirkungsvoll. Kein Licht, kein warmes Essen, kein Fernsehen am Abend.

Wie wird man durch die Art der Energie geprägt, welche das eigene Leben begleitet, geprägt, durch die Art des Lichts, der „Bewegungsenergie“? Ein ganz anderes Leben wäre es gewesen, hätte es keinen elektrischen Strom, kein Heizöl, kein Benzin gegeben. Oder doch elektrischen Strom, aber aus anderen Quellen? Wie hat es mich geprägt, dass mein Vater Kernphysiker war? Ein musizierender Physiker im übrigen, der mit Mitarbeitern anderer Kernkraftwerke in einem Orchester namens Camerata nucleare spielte und oft mit Stimmgabel und Stimmschlüssel in sein Cembalo hineinlauschte, als handle es sich um eine Apparatur, die man ebenso achten und beobachten müsse wie einen Reaktor.

Einmal stand ich direkt am Abklingbecken des Kernkraftwerks Obrigheim. Eine Führung im weißen Schutzanzug während der sommerlichen Abschaltung zum Wechsel der Brennelemente. Die verbrauchten Brennstäbe sandten im Wasser ein wunderschönes Blau aus, die sogenannte Tscherenkowstrahlung. Es war ein sphärisches, von den konkreten Dingen losgelöstes blaues Leuchten, als fände sich hier tatsächlich die „blaue Blume“ der Energieerzeugung, eine nicht nur erträumte, sondern real zu nutzende Utopie: eine saubere, unerschöpfliche Quelle für elektrischen Strom. Ich erinnere mich, dass mein Vater nervös wurde, als ich näher an das Becken herantrat: Brille runter oder festbinden! Was würde passieren, wenn die Nickelbrille, die ich damals trug, ins Wasser fallen und hinunter zu den Brennelementen trudeln würde, die hier noch jahrelang abkühlen müssen? Welche Kategorie Störfall wäre dies? Nur weil ich hier einer Sache auf den Grund sehen, auf den Grund gehen wollte? Deine Revoluzzerbrille! Was die Kernkraft betrifft, war ich allerdings nicht die große Debattengegnerin. Ich bewegte mich als Schülerin zwar in alternativen Zirkeln, aber wir waren damit beschäftigt, gegen die Nachrüstung, gegen die Stationierung von Pershing II-Raketen ganz in der Nähe, bei Heilbronn, zu demonstrieren. Oder gegen Pestizide, gegen Militärdiktaturen in Lateinamerika und „Kaffee, an dem Blut klebt“. Viele Väter arbeiteten im Kernkraftwerk. Dennoch formierte sich, auch unterm Eindruck des schwerwiegenden Störfalls, der sich 1979 im Reaktor Three Mile Island bei Harrisburg ereignete, in der Kreisstadt eine Bürgerinitiative und wurde ein zweiter Reaktor, für den bereits das Grundstück erworben war, nicht gebaut. Mein Vater musste auf Leserbriefe antworten und wurde auf Podien geschickt, was ihm gar nicht lag. Am liebsten argumentierte er als Physiker und Statistiker, oder mit der persönlichen Erinnerung ans Ruhrgebiet, wo wir nach dem Weggang aus der DDR eine Zeitlang gelebt hatten und der Himmel von Rußwolken verdüstert war. Die Endlagerung hielt er für beherrschbar, mit ähnlicher Hochtechnologie, mit der ein Reaktor betrieben wurde. Ohne schwerwiegenden Risiken oder in Abwägung mit der Kohlegewinnung und -verfeuerung das kleinere Übel, das man eben in Kauf nehmen müsse als Industriegesellschaft. Und bereits in den siebziger Jahren hat er uns den Treibhauseffekt erklärt, was wir als eine rein theoretische Rechnung auf dem Papier ansahen.

In den achtziger Jahren, mit den Anti-Atomprotesten (und der zunehmenden Nutzung von russischem Gas in Deutschland), war der utopische Glanz der Kernenergie verblasst. 1986 explodierte der Reaktor von Tschernobyl. Die Atommeiler galten nun als großes Umweltrisiko wie als Ziel für Terroristen (noch war die RAF, die Rote Armee Fraktion, aktiv) und wurden, wie hier bei Neckarwestheim II, mit hohen Mauern und Stacheldrahtrollen umgeben. Mir fielen, als ich jetzt die Betonzäune aus den späten achtziger Jahre entlangging, die Nikolausfeiern im Kernkraftwerk wieder ein, als wir „drinnen“ waren, in der Kantine, und auf den Nikolaus warteten. Mit Blockflöten, Geigen und Gitarren spielten wir unterm Dirigat meines Vaters traditionelle Weihnachtslieder, hinter uns ein imposanter Tannenbaum im prächtigen elektrischen Lichterglanz und ebenso beeindruckende Stapel von Geschenkkartons: die großzügigen Gaben des Kernkraftwerks oder allgemein der Siebzigerjahre-Wohlstandswelt, als der Reaktor Strom sowie üppige Steuereinnahmen lieferte. Wir stürzten zum Fenster, als endlich am Neckarufer der Nikolaus auftauchte, in einer von echten Pferden gezogenen Kutsche. Was jedes Mal einen Vater reizte zu fragen, warum der Abgesandte des Weihnachtsmannes noch immer nicht mit einem atombetriebenen Gefährt unterwegs sei. Winkend fuhr der Nikolaus am damals noch schlichten, lichten Maschendrahtzaun entlang zur Pforte, wo er vor einer mächtigen Panzersperre, die feindliche Invasoren fernhalten sollte, aus seiner Kutsche stieg und zur Kantine stapfte. Den Pförtner grüßend, Kennkarte nicht nötig: völlig zuverlässig. Die Pferde auf der Nikolausfeier des Kernkraftwerks waren ein Nostalgie-Accessoire wie der Kamin in den schicken neuen Häusern der Kernkraftsmitarbeiter. Was früher die essentiell nötige Energie lieferte – Pferdekraft, Holzfeuer –, diente jetzt als rein dekoratives Element.

Auch die Ära der Kohle, die noch unsere Eltern geprägt hatte (mit einem strengen Sparethos: keine Verschwendung! Nicht zum Fenster hinaus heizen!), war für uns Kinder des Petro-Zeitalters geradezu Steinzeit und wir selbst gar nicht so fern der „Sternzeit“, in der das Raumschiff Enterprise unterwegs war: unfassbar schnell, in Überlicht-Geschwindigkeit dank „Warp-Antrieb“ (von „to warp“: verzerren, krümmen). Im Jahr 2063 erfunden, also für uns quasi übermorgen, hatte der Warp-Antrieb etwas mit Raum-Zeit-Krümmung zu tun, verstanden wir, also mit Einstein und Atomphysik; aus dem in der deutschen Synchronisation verwendeten Begriff „Sol-Antrieb“ (von „Speed over Light“) hörten wir wiederum „Sonne“ heraus. War nicht auch die Kernkraft eine wie das Sonnenlicht elementare Energie? Auf dem Schulweg riefen wir uns Befehle zu wie: „Scotty, Energie!“, „Fertigmachen zum Beamen!“ oder „Volle Energie auf die vorderen Schilde!“ Derjenige, der Scotty spielte, Chefingenieur Montgomery Scott, antwortete: „Aye, aye, Captain, wir haben noch jede Menge Leistung zur Verfügung!“ Wir trugen ganz ähnliche Shirts wie die Crew, enganliegend und bunt, „pflegeleicht“ dank Polyester, aus Erdöl gewonnen; in der Sternzeit würden sie gewiss aus ganz anderen Fasern gestrickt und fürs Beamen noch geeigneter sein.

Scotty findet im Maschinenraum der Enterprise oft die rettenden technischen Lösungen und bekommt das Raumschiff für die weitere Reise durch die „unendlichen Weiten“ des Weltalls wieder klar. Im magischen Jahr 2222 in Schottland geboren, bewahrte er sich seinen schottisch-terrestrischen Akzent; erste berufliche Erfahrungen sammelte er in Bergwerken im denevianischen System beziehungsweise auf Frachtflügen dorthin. Von den uns bekannten Bodenschätzen blieb vor allem das Lithium wichtig; der erste Warp-Antrieb beruhte auf Lithiumkristallen. (Heute ist Lithium für e-Autos unverzichtbar.) Mitte des 23. Jahrhunderts, lese ich auf der Website Memory Alpha. Star-Track-Wiki, gelten sie als sehr viel wertvoller als Gold und Diamanten. Später löst sich die Enterprise auch von diesen irdischen Metallen und schwebte dank des (erfundenen) Elements Dilithium durchs All. Aber auch um das Dilithium eskalieren Konflikte. Doch ohne Konflikte keine Geschichten, und die Frage einer Energie, die zwar eine fortschrittlich-moderne Welt und galaktische Flüge ermöglichte, aber plötzlich versiegen konnte, schien eine drängende der sechziger Jahre zu sein. Noch träumte man von Mini-Atomreaktoren in jedem Haus, während in der Realität Kohle und vor allem Erdöl das Leben mit Energie speisten, gefährdet durch Verknappung, Krisen, Kriege.

Mit dem Sol- oder Warp-Antrieb wäre vielleicht endlich ein Problem gelöst, über das ich grübelte: Warum mussten all die Energieverluste sein, die Reibungsverluste in den Turbinen, Übertragungsverluste in den Hochspannungsleitungen? Selbst bei der auf so fortschrittliche Weise genutzten Kernenergie kamen nur 20 Prozent bei uns an, wie unser Vater erklärte, für den dies in den unfassbar banalen Gesetzen der Physik zu liegen schien, der terrestrischen Physik natürlich. Warum nicht die Sonnenkraft direkt, krümelweise auf die Erde holen, dachte ich, vielleicht auf einer Wiese in der Sonne liegend – und stellte mir ein Sonnenmännchen statt Sandmännchen vor, das aus seinem Säckchen reine Sonnenenergie über die Welt streute, die sich sogleich in das Licht der Lampen verwandelte, den Fernseher laufen ließ, das Auto bewegte. Immer der Umweg über die Verbrennung, über Turbinen und Leitungen, die eine aufwendig erzeugte Energie geradeso in die Luft versprühte. Wie umständlich die Welt eingerichtet ist, auch die Sprache. Wie ich, wenn ich rede oder schreibe, die eigenen Gedankenwolken über die großen allgemeinen, abgenutzten Turbinen schicken muss, mit ihren Schräubchen von Sprachbildern aus dem Kaminzeitalter: „in der Asche stochern“, „eine Lunte legen“. Nie hatten wir mit realen Tätigkeiten wie diesen zu tun. Auch nicht mit dem Ölbrenner im Keller, der still vor sich hinarbeitete, während wir im warmen Wohnzimmer gebannt weitere Folgen von Raumschiff Enterprise guckten.

Einmal wird die Enterprise, als sie in das Gravitationsfeld eines schwarzen Sterns gerät, in die Atmosphäre der Erde im Jahr 1969 versetzt, woraufhin der Warp-Antrieb aussetzt. Doch Scotty gelingt es, das Raumschiff mit Reserveenergie auf eine Umlaufbahn zu bringen, wo sie sicher vor der US-Luftwaffe ist; dabei holt die Enterprise sogar den Piloten eines amerikanischen Kampfjets an Bord. Später beamen sie ihn auf die Erde zurück, wo er sich an nichts erinnern kann. Die Enterprise selbst beamt sich dank des Fliehkrafteffekts zurück beziehungsweise in der Zeit nach vorn ins Jahr 2267. Wir selbst wären so gern an Bord gegangen! Wir hätten uns ganz souverän durch das Raumschiff bewegt und auch in Nullkommanichts den Warp-Antrieb verstanden, anders als die Dummköpfe von der US-Army, die wirkten wie Sheriffe irgendeiner unbedeutenden Siedlung in der amerikanischen Prärie.

Scotty gehörte für uns zur Sorte Fahrrad- und Motorbastler, die auf der Erde manche Ausflüge retten. Wenn die Crew nach Energie ruft, weiß er, ob Sol 1, Sol 2 oder Sol 3 bereitstehen. Oft genügt eben nicht galaktische Magie. Wenn ein Antrieb stockt, findet er eine bislang neue Schalterkombination oder eine unkonventionelle Überbrückung. Darin waren wir auch gut: Unsere Garage war voll mit Werkzeugen, Schrauben, Metall- und Holzteilen, alten Fahrrädern, Überresten von Versuchen, ein Tandem oder eine Seifenkiste mit Batterie-Hilfsantrieb zu konstruieren. Wir konnten alles – Häuser, Autos, Garagen-Hochhäuser, weitgespannte stabile Brücken – aus einem Haufen bunter Legosteine bauen; damals wurden die Legomodelle noch nicht mit passgenauen Elementen geliefert. Tatsächlich repariert Scotty mit „Bordmitteln“ der Enterprise auch eine Art Kernkraftwerk, den PXK-Pergiumreaktors der Kolonie auf Janus VI.

„Volle Energie auf die vorderen Schilde!“, das hallte in uns nach, bis heute vielleicht. Was unsere Schilde auflud, war der Optimismus der sechziger Jahre, realenergetisch das Erdöl aus Nahost und der Strom aus Kohle- wie Atomkraftwerken. Wir hatten jedoch nicht immer genug Leistung zur Verfügung, waren abhängig von anderen Ländern, von Großkonflikten, wie sich in der Ölkrise 1973 zeigte. In der Folge des Jom Kippur-Krieges stieg der Ölpreis; es folgten autofreie Sonntage, an denen man unbesorgt auf den Straßen Rollschuh fahren konnte (aber auch tiefgreifende wirtschaftliche Krisen, aus denen unter anderem günstiges Öl und Gas wieder heraushalfen).

An einem der ersten autofreien Sonntage im Winter 1973, daran erinnere ich mich gut, fuhren wir mit dem Bus in die Kreisstadt zu einem Klaviervorspiel. Es mutete mich sehr seltsam an, den Bus, der sonst der Schulbus war, voller Erwachsener zu sehen, die in unserer ländlichen Gegend, wo jede Familie mindestens ein Auto besaß, plötzlich auf die eigenen Füße und auf Fahrpläne angewiesen waren. Noch befremdlicher war der Anblick der neu gebauten Schnellstraßen und Neckarbrücken, die wie nackt dalagen. In der Dunkelheit, in der Mitte der leeren Hauptstraße laufend, nach Hause zurückgekehrt, schalteten wir die Fernsehnachrichten an, wo der Sprecher mit nahezu dramatischer Stimme verkündete: Noch nie seit dem Krieg war es so still auf deutschen Straßen! An was dachte er, an Panzer und Bomben, an Explosionen, die noch im Frühjahr 45 die Luft erfüllten? Bis am 8. Mai endlich Frieden war und Stille herrschte, und bei den einen das Entsetzen über das Geschehene, bei den anderen die Angst, als Täter entlarvt zu werden, aufstieg. Musste in die Stille, um sie erträglich zu machen, der Lärm der Maschinen und Autos des sogenannten deutschen Wirtschaftswunders treten?

In der Tagesschau an jenem Dezember 1973 sah man achtspurige Autobahnen mit vereinzelten Fahrzeugen (mit Sondernehmigung, wie der Kommentator versicherte), Tankstellen mit Schildern „Benzin ausverkauft!“, schließlich Ölscheichs an einem Konferenztisch. Um den Kopf trugen sie Palästinensertücher geschlungen, wie sie meine älteren Brüder von einem Tripp nach Heidelberg zurückbrachten (zusammen mit den neuesten Schallplatten), und unterm rot-weißen Turban kastige Brillen mit breitem schwarzen Rand, die ich von unserem Vater und unseren Lehrern kannte. Das kam mir vertrauenswürdig vor. Sie signalisierten eine zum Eigenheim-Schnellstraßen-Lebenskreis passende Vernunft. Gerade hatte unser Chor in einem Klassenzimmer der Oberstufe geprobt, wo ich die ganze Zeit auf die Tafelaufschriebe des Geschichtslehrers blickte: „Nach 1945: Gründung der Bundesrepublik, Grundgesetz, EU, NATO…“ Nach 1945, dachte ich, war alles gut. Vor diesem Hintergrund probten wir unsere Kanons.

Jetzt liegen der Reaktor und die Kühlwolke hinterm Berg und ich sitze im Zug zurück nach Stuttgart. Beim nächsten Bahnhof kommen wieder die Kohlehalden eines Kohlekraftwerks in den Blick, das in Zeiten, wenn Sonne und Wind fehlen, einspringen soll. Wie wird man nur in fünfzig, in hundert Jahren über unsere Zeit urteilen? überlege ich. Vielleicht ereignet sich ein weiteres großes Reaktorunglück in der Welt, in Europa? Oder es wird tatsächlich ein neuer Reaktortyp entwickelt, der noch sicherer ist als die bisherigen und weniger radioaktive Abfälle produziert? Ist der Atommüll nicht doch das kleinere Übel verglichen mit den Folgen weiterer ungehemmter Verbrennung fossiler Energieträger? Oder binden die Nuklearanlagen einfach zu viel Geld?

In die „Sternzeit“ von Raumschiff Enterprise heben wir nicht so einfach ab. Wir bornierten Erdlinge verfeuern noch reichlich Kohle, sitzen auf Fässern mit radioaktiv strahlendem Müll. Aber in uns ist auch ein wenig Montgomery Scott: In der Phantasie sind wir durch „unendliche Weiten“ geflogen, in der Realität haben wir  Technologien entwickelt, mit denen man Sonden zielgenau zu fernen Planeten und Sternen aussenden kann. Von einer bemannten Marsmission würde Scotty, der Energiespezialist und pragmatische Ingenieur, gewiss abraten, solange nicht essentielle Fragen von Fluglänge und Marsatmosphäre geklärt seien – aber vielleicht würde er, mit unseren Problemen konfrontiert, anregen, all die technischen Innovationen nicht für einen riskanten Raumflug, sondern für das Leben auf dem Planeten Erde zu nutzen? Dachte er nicht gerne an sein altes Schottland zurück? Womöglich würde er sich sogleich Gedanken über technische Möglichkeiten machen, die uns zwar nicht in eine Sternzeit, aber in eine irdische Solarzeit aufbrechen ließen. Ohne Beamen.