2
Kassandra, Taxi Berlin und die Relativität der Zeit
oder:
Steh’ auf, wenn dich der Wecker weckt!
Ich bin ganz plötzlich hoch geschreckt
Keine Zeit mehr zu verlieren
Verdammt, das musste ja passieren
Das musste ja passieren. Diese leise Hoffnung darauf, dass die Reise doch ins Wasser fällt, weil ich, wie schon erwähnt, ein bisschen Schiss hatte, vor dem Prozedere des Trips, vor der Kälte, dem Schnee, dem Winter, diese leise Hoffnung also hatte sich wohl irgendwo in den Tiefen des Schicksals verfangen. Vielleicht war diese Angst stärker, als ich sie zulassen wollte? Und dann verfestigte sie sich, und statt der Stimme der Angst meldete sich die des Unterbewusstseins mantraartig? Und vielleicht löste das diesen Kassandra-Effekt aus? Die sich selbst erfüllende Prophezeiung, aus einem Wünschen heraus geformt, das keineswegs eines bewussten Willens entsprang?
Ich freute mich doch auf die Reise. Ich freute mich doch auf das Neue, auf ein Land, das ich nicht kenne, auf das Unbekannte, auf seine Gerüche, seinen Klang, seinen Geschmack und darauf, wie es sich anfühlen wird. Ich freute mich auf die Lesungen, auf die Arbeit mit dem DKT, den Studierenden der Uni Tampere, auf all die Projekte, die anstanden. Ich freute mich auf die Abgeschiedenheit, darauf, vielleicht ein bisschen runter, ein bisschen zu mir zu kommen. Ich freute mich aufs Schreiben, auf die Zeit, die ich haben würde und ja, ich freute mich sogar ein bisschen auf den Winter, auf den Schnee, auf die Kälte.
Pünktlich und ungewohnt früh lag ich in „meinem“ Hotel-Bett, mit dem Vorhaben, sehr zeitig aufzustehen, um mich in aller Ruhe fertig zu machen, mich nochmal zu sammeln und rechtzeitig am Flughafen zu sein, damit ich die Prozesse noch einmal beobachten könnte, um mich nicht mit meiner Unwissenheit zu blamieren. Das letzte Mal, als ich flog, damals 2019 nach Glasgow, war ja alles noch analog. Die zunehmende Digitalisierung aber macht natürlich vor Airports nicht Halt, und ich wollte mir ansehen, wie das nun alles vonstatten geht, bevor ich, wie der Ochs vorm Tor, hochroten Gesichtes, vor irgendwelchen Scannern stehe und nicht die geringste Ahnung habe, was wie funktioniert. Daraus wurde nichts, denn das musste ja passieren.
Halb zehn Uhr abends sah ich das letzte Mal auf die Uhr. 3:30 Uhr sollte der Wecker das erste Mal klingeln.
Das tat er auch, nach einer eher unruhigen Nacht. Morpheus Arme waren von meiner Aufregung befallen und sein Vater zürnte ob dessen. Die Träume waren seltsam und ließen mich immer wieder aufwachen. Fast sehnte ich mich nach dem Klingeln des Weckers. Als der dann das erste Mal sein blechernes Schallen ins Hotelzimmer warf, schmunzelte ich, drückte auf die Snooze-Taste und drehte mich noch einmal um. „Noch drei mal Snooze, dann aufstehen.“ dachte ich und schloss die Augen. Aber das göttliche Duo des Schlafes hatte anderes mit mir vor.
Ich erinnere mich an ein zweites Klingeln des Weckers. Auch daran, dass ich ihm den Befehl gab, mich in zehn Minuten ein drittes Mal zu wecken. Aber verdammt ja: Das MUSSTE ja passieren.
06:15 Uhr fuhr meine Bahn zum BER. Ich wachte auf und dachte noch: „Na …? Hätte der Wecker nicht längst klingeln müssen?“ Augen auf, Blick auf die Uhr, Schock!
06:02 Uhr! Dreizehn Minuten bis zur Abfahrt der S-Bahn. Logisch, dass ich das nicht schaffen würde. Der Fußweg zur Station dauerte laut Google Maps 10 Minuten. Nun war nicht nur Eile geboten, sondern auch guter Rat teuer. Und wie das immer ist, wenn man ohnehin knapp bei Zeit ist, liefen die Dinge eher suboptimal. Sagte ich es eigentlich schon? DAS verdammt nochmal MUSSTE JA PASSIEREN.
Von null auf hundert in drei Millisekunden. Hochschnellen, ins Bad, Katzenwäsche, beim Anziehen die Siebensachen in den Koffer, Schuhe an, raus zum Fahrstuhl, runter in die Lobby, auschecken, Kaffee to go bestellen.
Die schlecht gelaunte Rezeptionistin hatte die Jacke noch an. War wohl gerade erst angekommen.
„Frühstück gibt’s erst ab halb sieben!“ sagte sie und bemühte sich nicht einmal, dabei freundlich zu klingen.
„Das macht nichts, ich hab kein Frühstück gebucht. Ein Kaffee zum Mitnehmen wäre mir dennoch lieb.“
„Milch? Zucker?“
„Nichts von beidem… schwarz. Aber ich hab’s ein bisschen eilig. Können Sie mir ein Taxiunternehmen empfehlen?“
„Taxi Berlin.“
„Ok, danke.“
Während die Kaffeemaschine offensichtlich noch warm laufen musste, was sie mit höllischem Lärm tat, googelte ich nach dem Fuhrunternehmen und wählte die Nummer. Eine männliche Stimme meldete sich:
„Taxi Berlin, einen schönen guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?“
„Guten Morgen, mein Name ist Kruppe, ich bräuchte ein Taxi vom Hotel Meininger zum BER.“
„Ich brauche erst mal eine Adresse.“
„Die weiß ich gerade nicht. Meininger Hotel am Bahn…“
„Eine Adresse!“ – herrschte der Telefonist, und die Kaffeemaschine lief auf akustischen Hochtouren.
„Hören Sie, ich weiß die Adresse gerade nicht. Das ist das Hotel…“
„Ich verstehe Sie kaum!“
„Warten Sie, ich googel die Adresse, einen kleinen Moment bitt…“
„Ich versteh den Kerl nicht …“ tut tut tut tut
Kennst du dieses deprimierende Gefühl, wenn du dringend etwas klären musst, am Telefon, und die Leitung zusammenbricht? Und kennst du das, wenn während dieses dringenden Telefonats dein Gegenüber plötzlich einfach unvermittelt auflegt? Ja? Dann weißt du, wie es mir in diesem Moment ging.
Ein Blick auf die Uhr. 06:17 Uhr. Wann ist eigentlich „latest check in“? Keine Ahnung, aber es muss einen Grund haben, dass mir Claudia vom DKT ausgerechnet diese Bahnverbindung herausgesucht hat. Die Bahn, die ich eh schon verpasst hatte. Die Kaffeemaschine ratterte, brauste, zischte, klapperte, aber Kaffee ließ sie noch nicht aus. Ich schaute auf den Ausdruck mit der S-Bahn Verbindung. Meine Hände zitterten, mein Herz pumpte, Schweiß auf der Stirn …
Ja, kein Zweifel, viertel sieben Abfahrt, Ankunft am BER 06:51 Uhr.
„Verdammt, was mache ich denn jetzt?“ dachte ich, während die Kaffeemaschine sich beruhigte und nun auch die schlecht gelaunte Rezeptionistin zu den Bechern griff. „’n großen oder ’n kleinen?“ fragte sie.
„Den größten, den sie haben.“ sagte ich und drehte mir eine Zigarette.
„Das macht drei fuffzich!“
„Stimmt so.“ sagte ich und reichte ihr den zerknitterten Fünf-Euro-Schein aus meiner Hosentasche. Bevor sie jetzt noch ewig nach Wechselgeld sucht, wollte ich raus, eine rauchen und einen Plan machen. Ich zündete mir eine Zigarette an, verbrannte mir den Mund am viel zu heißen Kaffee, googelte die Adresse des Hotels und versuchte erneut, ein Taxi zu bestellen. Diesmal ging eine Frau ran:
„Taxi Berlin, guten Morgen.“
„Ja guten Morgen. Kruppe mein Name. Ich brauche ein Taxi von der Alexander-Meißner-Straße 1 zum BER.“
„Wie heißt die Straße?“
„Alexander – Meißner – Straße.“ betonte ich sehr, sehr deutlich und fuhr fort: „Das ist das Meininger Hotel am Airport.“
„Mit e-i oder e-y?“
„E-I“
„Mit ß?“
Ich wurde langsam fuchsig, wütend, verzweifelt. Die Unruhe verdoppelte sich, das Zittern wurde stärker. Einen Schluck Kaffee, wieder verbrannte ich mir den Mund.
„JA, MIT SZETT. Hören Sie, ich hab’s verdammt eilig!“
„Ich find’ die Straße nicht!“
Und wieder ertönte das grausame Tuten. Aufgelegt. Zum verdammten zweiten Mal ließen sie mich hier in der Kälte stehen. Nun begann es auch noch zu schneien. Ich drehte mir eine weitere Kippe und sah mich um. Vielleicht ist ja hier jemand auf dem Parkplatz, dem ich einen Zwannie in die Hand drücken und fragen könnte, ob er mich dafür schnell zum Flughafen fährt?
Dunkel lag der Parkplatz vor mir. Keine Bewegung, kein Mensch zu sehen. Dicke Flocken schwebten zu Boden und legten sich säuselnd auf den Asphalt. Mir standen die Tränen der Verzweiflung in den Augen.
Ein dritter Versuch, wieder eine männliche Stimme:
„Taxi Berlin, einen schönen guten Morgen.“
„Guten Morgen. Ich brauche ein Taxi von der Alexander-Meißner-Straße 1 zum BER.“
„Und ich brauche erst mal einen Namen.“
„Oh, natürlich … Kruppe.“
„Wie?“
Ich buchstabierte meinen Namen.
„Alles klar, hab ich. Und wo stehen Sie?“
„Alexander-Meißner-Straße 1“
„Kleinen Moment bitte.“
Ich hätte am liebsten geschrien: „Ich habe keinen kleinen Moment mehr. Ich habe es scheiße EILIIIIG!“ blieb aber ruhig, verbrannte mir zum dritten Mal den Mund am Kaffee, zog leise fluchend an meiner Zigarette und mahnte mich innerlich durchzuatmen. Der Taxi-Callboy meldete sich wieder:
„Ich find‘ die Straße nicht. In welchem Bezirk ist das denn?“
„Ich hab nicht die geringste Ahnung! Ich bin kein Berliner! Aber ICH HABE ES VERDAMMT EILIG!“ Nun verlor ich doch fast die Fassung. Ein cholerischer Anfall drohte und fast hätte ich aufgelegt, um einfach wieder nach Hause zu fahren. Doch nun kam Licht ins Dunkel.
„Ahh…“ sagte der Telefonist „ist das das Meininger Hotel am Airport?“
Nun waren es Tränen der Freude, die meine Augen wässerten.
„Jaaa!“ sagte ich, als hätten wir eben einen Schatz gefunden.
„OK, das ist aber nicht Berlin. Das ist Schönefeld und Schönefeld gehört nicht zu Berlin.“
Sollte der Schatz nur eine alte, leere Holzkiste sein? Gammlig, modrig, stinkend?
„Das wusste ich nicht,“ sagte ich „aber kann ich nun ein Taxi bekommen oder nicht? Und wie lang wird es dauern, bis es hier ist? Ich muss nochmal betonen, dass mein Flug gleich geht und ich arg in Eile bin.“
„Ok, ja Moment, ich schau mal. … Der Wagen könnte in zehn Minuten bei Ihnen sein. Wie war nochmal der Name?“
„K R U P P E!!!!!!!!!!!!!!!“
„Wie die Gruppe? Mit G?“
Wenn er neben mir gestanden hätte, hätte er sich spätestens jetzt eine eingefangen. Spätestens jetzt!
Erneut buchstabierte ich meinen Namen.
„Alles klar. Hab ich. Sie bekommen dann gleich noch einen SMS mit dem Kennzeichen des Taxis, wann der Fahrer da ist und …“
Nun war ich es, der auflegte, und vier Minuten später kam schon das Taxi. „Geht doch.“ dachte ich und sah noch einmal auf den Ausdruck mit der Bahn-Verbindung. Nun stellte ich fest, dass nicht die Route zeitlich aufgelistet war. Der ganze Stress fast für umsonst, denn die Zeitangaben waren nicht etwa die Zwischenstationen der Linie und jene ganz unten nicht etwa die Ankunftszeit am Flughafen, sondern nur weitere Abfahrtszeiten, die auch möglich gewesen wären. 06:51 Uhr war also nicht die Zeit, zu der ich hätte da sein müssen, sondern die letzte Bahn, die ich hätte nehmen können. Jetzt war es 06:50 Uhr. Mit der Bahn hätte ich 15 Minuten gebraucht, das Taxi schaffte es in der Hälfte der Zeit. Ich war also wieder „in time“, war es eigentlich die ganze Zeit. Zwischen Aufwachen und Ankunft vergingen exakt 48 Minuten. Ein Rekord, würde ich sagen.
Ja, das musste ja passieren.
3 Ankunft in der Einsamkeit
oder:
Da lieg ich nun in diesem Bett
und fühle mich allein
Der Blick zum Fenster raus, ganz nett
Doch netter wärs, zu Zwei’n
Drei Minuten nach neun startete der Flieger. Es ist immer wieder ein komisches Gefühl, in so einer Kiste zu sitzen, angespannt und aufgeregt wartend, dass die Türen geschlossen werden, die Flugbegleiterinnen ihre Show abgezogen haben und das Flugzeug langsam, als sei es nicht das, was es ist, auf die Startbahn rollt. Beinahe gemütlich fährt man einige Minuten so dahin, dann plötzlich ein Stopp, und auf einmal wird aus dem Summen der Antriebe ein Dröhnen, die Kiste kriegt Schub, das Rollen wird zum Rasen, und das Kribbeln im Bauch sagt auch denen, die keinen Fensterplatz haben, dass wir in diesem Augenblick den Bodentakt verlieren, abheben und steigen. Steigen, bis in den potentiell sicheren Tod. Wenn jetzt etwas passiert, hat sich’s erledigt. Dann kannst du nur noch so schnell es geht den Getränkewagen überfallen, um nicht nüchtern zu sterben. Wie viel Bier man wohl trinken kann während eines Absturzes aus 10.972 Metern Höhe?
Berlin zeigte sich unfreundlich. Grau und schmutzig lag es unter mir, als riefe es uns nach: „Ja, verpisst euch ruhig!“
Fliegen ist noch immer nicht mein Ding. Ich habe immer Schiss, hatte ich beim ersten Mal, damals 2014 von Berlin über Istanbul nach Georgien, hatte ich bei den Flügen nach Schottland und hatte ich auch jetzt wieder. Jedes kleines Ruckeln – und diese Kisten können ordentlich ruckeln, als führe man mit einem Traktor über einen Feldweg.
„Bis hierher ging’s noch ganz gut.“ Das Zitat aus dem Film La Hain war mir immer im Kopf, wenn ich flog. „Bis hierher … ging’s noch ganz gut!“
Aber der Blick, wenn du die Wolkendecke durchbrichst und die Sonne dir näher ist als sie es je sein kann am Boden, während das wattige Weiß unter dir liegt, entschädigt einiges.
Zwei Stunden später landeten wir sanft in Helsinki. Das also war schon einmal geschafft. Jetzt musste nur noch die Hürde der Zugfahrt genommen werden. Aber erst mal, und das war das Wichtigste, eine rauchen.
Was für ein Glück, dass ich im Tabakladen am Hauptbahnhof Leipzig, wo ich mich vor zwei Tagen noch mit Tabak eingedeckte, ein Feuerzeug geschenkt bekam. Denn ich hatte bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen Berlin an alles gedacht. Nur nicht an das Zippo, das in seiner Tasche an meinem Gürtel hing. Natürlich war das nun weg.
„Sie können aber auch nochmal rausgehen, die Watte und den Feuerstein rausnehmen und noch einmal durch die Sicherheitskontrolle gehen. Dann ist es ok,“ hatte der Kontrolleur gesagt.
„Nee lass ma,“ sagte ich „Scheiß drauf, dann isses eben weg. Ich geh den ganzen verdammten Weg jetzt mit Sicherheit nicht noch einmal.“ Ade Zippo … warst ein treuer Begleiter im letzten halben Jahr.
Gegen meine Befürchtungen meisterte ich den Weg zur S-Bahn nach Tikkurila und von da aus den Zug nach Tampere ohne große Probleme. Der Zug raste durch Finnland. Vorbei an kleinen Dörfern, vorbei an Städten, vorbei an Feldern und Wäldern. Landschaftlich hätte das hier auch Deutschland sein können. Es gab optisch keinen großen Unterschied. Abgesehen vom Schnee, den man in Deutschland nur noch selten hat. Und schon gar nicht in diesen Mengen wie hier. Nur die Gebäude verrieten ein Anderssein. Neben flachen, meist dreistöckigen Neubaublocks in den Städten fanden sich hier vor allem diese typischen Holzhäuser, hier in Gruppen, zu einem Dorf formiert, da immer wieder vereinzelt, in Waldgebieten. Rot, blau, gelb gestrichen.
Und natürlich ließen die Beschriftungen an den Bahnhöfen keinen Zweifel daran, tatsächlich in Finnland zu sein. Doch kaum, dass der Zug hielt und ich anfing zu lesen, wo wir gerade waren, fuhr er auch schon wieder los. Und das lag nicht an den kurzen Haltezeiten, sondern an der Kompliziertheit der schriftlichen Sprache. Lange Worte, vor allem aus Vokalen bestehend, nur der Vollständigkeit wegen von Konsonanten unterbrochen, so scheint es, machen das Lesen für Ungeübte wie mich beinahe unmöglich.
In Lempäälä stieg dann Claudia zu, meine Betreuerin vom DKT. Mit dem Taxi ging es dann von Tampere nach Haihara, jenem Ort, der mir in den nächsten vier Wochen also Heimstatt sein sollte. Ein wunderbares kleines Häuschen. Obschon die Begriffe „klein“ und „Häuschen“ eigentlich falsch sind, denn dieses einstöckige Holzhaus hatte wenigstens 70 qm Fläche, die sich auf drei Zimmer, Küche, Bad verteilten.
Umgeben von einem großen, eingezäunten Gelände stand das rostrot gestrichene Haus vor mir, und es schien, als heiße es mich willkommen. Freundlich stand es, seine Fenster sprachen Einladung, die idyllische Veranda schien mich heranzuwinken und die Eingangstür flüsterte die nicht: „Komm rein“?
Drinnen zeigte sich die Doppeldeutigkeit dessen, was ich hier in den folgenden Wochen war: „Residenzkünstler“ … Wahrlich: dieses Haus war eine Residenz. Ein riesiges Wohnzimmer, mit einem Tisch, der den Begriff Tafel verdiente, ein Sofa, Bücherregale. Ein kleineres Arbeitszimmer mit Schreibtisch vor einem Fenster, durch das man in die Winterwaldlandschaft blickte, und einer Liege, eine voll ausgestattete Küche und ein Schlafzimmer, das durch sein Fenster ebenfalls jenen herrlichen Blick in den Winterwald offenbarte. Ein kleines Badezimmer, mit Sitzdusche. Bei mir zu Hause in Leipzig habe ich nur halb so viel Platz.
Ich meinte mich zu erinnern, dass es für diese Art Häuser hier in Finnland einen eigenen Begriff gab. Aber ich lag falsch.
„Sag mal, Claudia, wie nennt man hier in Finnland diese typischen kleinen Holzhäuser? Irgendwo auf der Seite des DKT habe ich das neulich gelesen.“ fragte ich.
„Du meinst die, die als Ferien-/Sommerhäuser genutzt werden? Die heißen auf Finnisch Mökki, was viele Deutsche wie einen Eigennamen benutzen. Ansonsten gibt es kein eigenes Wort für diese Holzhäuser.“
„Ahhh … ja, das ist es, was ich gesucht habe … für dieses Haus hier, das ich bewohnen darf, ist das dann aber wahrscheinlich der falsche Begriff?“
„Genau, du wohnst einfach in einem alten Holzhaus.“
Nun ging es zu Fuß zum örtlichen Supermarkt. Eine Viertelstunde Fußmarsch durch den Schnee, während Claudia mir ein paar Gegebenheiten des Ortes erklärte und sagte, dass sie nach dem Einkaufen direkt mit dem Bus nach Hause fahren würde.
Genügsam suchte ich aus, was ich für die nächsten Tage brauchte. Nudeln, Kartoffeln, Brot, Toast, Käse, Butter, ein paar Bier.
Die erste Nacht brach an. Still war es überall. Das Schlafzimmer weckte eine gewisse Melancholie in mir. Dieses große Bett, ideal, um zu zweit darin zu liegen. Ich jedoch war allein.
Bis hierher war alles Genuss. Selbst der Stress der Anreise war, rückblickend betrachtet, Genuss. Jetzt aber hatte ich den innigen Wunsch, meine Freundin hier zu haben. Genuss, den man teilt, ist doppelter Genuss. Und Sehnsucht ist ein scharfes Schwert. (Entschuldige Roger, ich muss an dieser Stelle deinen Songtitel abwandeln.)
Sehnsucht überfiel mich und die Frage, wie das wohl werden würde, in den nächsten Tagen und Wochen.
4
Ein Schock, die Frage nach dem Überleben und die finnische Sprache
oder:
Oh Graus, oh Himmel, großer Schreck
Im Haus das Internet ist weg
Jetzt sitz‘ ich ohne Netz hier drinnen
und muss mich auf mich selbst besinnen
oder:
Willst du Finnisch deutlich sprechen
musst für einen Kurs du blechen
und bist du auch ein Sprachgenie
Allein lernst du die Sprache nie
„Und dann sitzt du da… ohne Internet … nichts geht mehr seit gestern Abend. Weder über den Router hier im Haus, noch über meine mobilen Vertragsdaten.“ – schrieb ich am 03. Februar in mein Notizbuch.
Was vor zwei Tagen noch halbwegs funktionierte, war dahin. Das erschwerte nicht nur meine Arbeit hier, sondern brachte Unwetter über die Freude, hier zu sein. Ja, es war beinahe so, als ob sie gänzlich zerstört würde. Erste-Welt-Sorgen!
„Scheiße, was mach ich denn jetzt? Ohne Internet?“ Dachte ich und wusste, dass alle, alle … alle! in den so genannten Zivilisationen, die nicht bewusst oder aus Armutsgründen keinen regelmäßigen Internetzugang haben und nutzen, in dieser Situation exakt den selben Gedanken hätten.
Tja … da saß ich nun, am Rechner und blickte durchs Doppelglasfenster hinaus in diese wunderschöne Winterwaldlandschaft, betrachtete, während sich Verzweiflung und schlechte Laune breit machten, die Schnee bedeckten Sträucher im Gärtchen zwischen Haus und dem rotbraunen Holzzaun „hintenraus“, auf dem der Schnee eine gut 25 cm hohe, weiße Linie bildete. Hinter dem Zaun der Wald, weißbraun mit dunkelgrünen Aspekten der Tannen rechts, mit grauweißen Flecken der Birken links.
Dieses Bild war mir Genuss, und dieser Genuss betäubte kurz die schlechte Laune, die Verzweiflung, und ein Gedanke keimte: „Na dann eben kein Netz. Ist doch auch mal gut. Zeit zum Schreiben, unabgelenkt. Zeit zum Lesen. Zeit, mal raus zu gehen, zu laufen. Zeit, einfach mal wieder du zu sein.“
Der Stein zum inneren Dialog war ins Rollen gebracht:
„Ja aber ich muss auch arbeiten. Deswegen bin ich hier. Ich kann nicht die nächsten vier Wochen hier rumsitzen, tippen, wandern, lesen.“
„Natürlich nicht. Aber du kannst, wenn du ins Netz willst, einfach nach Tampere fahren, das Angebot des Deutschen Kulturzentrums wahrnehmen und in den Räumen des DKT deine Netz-Arbeiten erledigen. Jeden zweiten Tag, drei, vier Stunden und damit schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe.“
„Ich muss die Facebook- und Instagram-Community bedienen. Wenn du zwei Tage raus bist, fängst du wieder von vorn an!“
„Das ist Blödsinn! Willste [= willst du] gelten, mach dich selten. Altes Sprichwort, das sich immer wieder bewahrheitet.“
„Fuck off! Alte Sprichworte in der Moderne or what? Bullshit. Das Netz ist gnadenlos!“
„Und du brauchst diese Community? Ist das nich ein bisschen armselig?“
„Sie braucht mich!“
„Was bist’n du für ein arroganter Arsch?!“
„Nein natürlich braucht sie mich nicht. Ich bin ein Nichts in den Weiten des Netzes. Wie ich global betrachtet ein Nichts auf diesem Planeten bin. Aber im Kreise derer, die mich kennen, bin ich doch wer? Und die wollen doch auch wissen, wie es so läuft hier in Finnland.“
„Nimm dich mal nicht so wichtig. Die bekommen das schon früh genug mit.“
„Und was ist mit den Streams? Das ist Geld, das mir durch die Lappen geht. Und wenn du deine Regelmäßigkeit bei Twitch nicht hältst, dann musst du wieder neu und langsam anfangen. Das hatte ich im letzten Jahr schon einmal.“
„Was genau stört dich daran? Du machst es doch so oder so, nicht?“
„Die Tatsache, dass mir da Geld durch die Lappen geht!“
„Du bist also ein Stricher am Twitchbahnhof, irgendwo zwischen Osteingang und Bahnhofsklo?!“
„Ach lass mich doch in Ruhe. Irgendwie muss ich meine Miete bezahlen. Irgendwie muss ich mein Fressen bezahlen, irgendwie…“
„…musst du dein Bier, deine Kippen und deine geografische Unbeständigkeit bezahlen.“
„Eben…“
„Fahr dich mal ein bisschen runter! Geh raus, genieße das wahre Leben.“
„Was anderes wird mir auch nicht übrig bleiben. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich muss schreiben.“
Ich verwarf den Tagesplan, nach dem Schreiben für eine Stunde die nähere Gegend zu erkunden. Wald, Teich und See mussten nun also warten. Lieber erst mal mit dem Bus nach Tampere, vielleicht könnte ich vom Büro des DTK aus die wichtigsten Arbeiten erledigen. Mails checken, Miete überweisen, das Video, das ich gestern Nacht geschnitten hatte, hochladen und recherchieren, wo ich einen LTE Stick nebst einer Karte mit unbegrenztem Datenvolumen herbekomme.
Und am Abend vielleicht mal in dieses Pub, das hier in der Nähe war, meiner Maxime folgend: Willst du einen Stadt kennenlernen, gehe in ihre Kneipen.
Aber daraus wurde nichts. Die Pubs schlossen hier schon 18.00 Uhr. Wegen der Pandemie. Mir erschloss sich der Sinn nicht. Als ob Corona Öffnungszeiten kennt.
Im Büro des DKT konnte ich all meine Online-Aufgaben erledigen und traf spontan das erste Studentinnen-Duo der Uni Tampere. Das nämlich war neben dem Schreiben und den Lesungen, die hier stattfinden sollten, eine meiner Aufgaben in Tampere: Die Studierenden des Germanistik-Semesters sollten Menschen aus Deutschland interviewen, die in Finnland leben. Meine Aufgabe war es, die Videos dann mit den Studies zu schneiden und zu editieren. Maija und Nathalie waren nun also die ersten, die sich telefonisch meldeten, und da ich gerade im Büro des DKT war, passte das ganz gut.
Nun also war es halb zehn Uhr abends. Die Kneipe hatte geschlossen, mir war nach einem Bier, also ging ich weiter zum Supermarkt. Das war das Schöne hier. Du konntest eigentlich 24/7 einkaufen. Wenn dir nachts halb elf nach Schokolade war, nach einem Snack oder nach einer ausführlichen Mahlzeit, wenn dir einfiel, dass du vergessen hattest, Kaffee zu kaufen, konntest du losgehen und dich versorgen. Ob das nun arbeitsfreundlich war, denn schließlich müssen dann auch Menschen 24/7 arbeiten, stand auf einem anderen Blatt. Aber vielleicht schaffte genau dieses Prinzip ja auch Arbeitsplätze. Denn hier kam ja eine weitere Schicht hinzu. Doppelt so viel Personal also, als es in Deutschland „benötigt“ wird.
Siegessicher legte ich drei 0,5 l Dosen Karhu zu je 3,80 Euro UND einen Pudding aufs Band.
Die Kassiererin blickte fragend über den Goldrand ihrer Brille.
„Klar ich weiß schon … sieht man, dass ich kein Finne bin, ich trinke Bier und kaufe gleich DREI auf einmal. Und das um diese Zeit.“ dachte ich.
Sie sagte etwas auf Finnisch, was ich nicht verstand, weswegen ich sie unterbrach: „Äh sorry, do you speak English?“
„No beer after 9 pm!“ sagte sie entschlossen und lugte ein weiteres mal streng über ihre Goldrandbrille.
„Oh … das wusste ich nicht .. äh… that’s new for me, sorry!“
Sie nahm die Dosen vom Band und zog den Pudding über den Scanner. Und ich meine, den Hauch eines genießerischen Grinsens in ihrem Gesicht erkannt zu haben. „DU trinkst heute nichts mehr, mein ausländischer Freund!“ … Natürlich ist das eine bösartige Unterstellung. Ich hatte keine Ahnung, was sie dachte. Und hätte sie es mir versucht mitzuteilen, ich hätte kein Wort verstanden, denn die finnische Sprache war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Jede Sprache hat ihren eigenen Sound, ihr ganz eigenes Klangmuster. Und ich versuchte schon im Vorfeld zu Hause, durch Sprachbeispiele dahinter zu kommen, es zu verstehen. Und das versuchte ich auch hier in Finnland immer wieder. Im Bus belauschte ich die Menschen. An der Kasse im Supermarkt, an den Haltestellen und auf der Straße. Aber ich fand den Schlüssel zum Sprachbild nicht. Auch nicht im Lesen. Ich wusste inzwischen, dass immer die erste Silbe eines Wortes betont wird und nur in einigen Fällen auch noch andere Teile, bei längeren Worten. Und lange Worte hat das Finnische schier unzählige. Allein das Lesen ist kompliziert.
Die Sprache selbst klingt in meinen Ohren so hart, dass ich nicht selten das Gefühl hatte, da draußen vor dem Zaun „meines“ Hauses streiten sich die Menschen. Wenn Mütter mit ihren Kindern redeten, und hier kamen viele Mütter mit ihren Kindern auf Skiern vorbei, hatte ich oft den Eindruck, dass das Kind gerade irgend etwas ganz Böses angestellt hatte und just in diesem Augenblick garstig ausgeschimpft wurde. Doch zwei Sekunden später lachten alle, und ich stellte fest, dass der Ton der Sprache obliegt, Usus ist, und nicht im Ansatz eine brenzlige Situation vorlag.
Das scharf gesprochene „S“ zum Beispiel, dieses Züngeln, das ofthin klingt, als spräche die Schlange aus dem Paradies höchstpersönlich gerade zu Eva, endlich in den verdammten Apfel zu beißen, hatte einen fast strengen Klang.
Gestern hielt ich einer älteren Dame beim Verlassen des Kiosks die Tür auf, damit sie eintreten könne. Ihr Danke, das hier kiitos heißt, klang wie: Bis du bescheuert? Ich bin alt und selbständig genug, die Tür allein auf- und zuzumachen! Kiitos … wobei eben jenes scharf gesprochene S wie eine Drohung klingt …
Kiitos sagte sie, und es klang auch ein bisschen wie „Verschwinde Junge!“
Nur ihren Augen, ihrem Gesicht war die Dankbarkeit zu entnehmen. Sie freute sich scheinbar doch, dass es noch Menschen gibt, die freundlich sind, anderen Menschen Türen aufhalten zum Beispiel. So war in ihrem Blick auch eine Art Verwunderung. Aber vorwiegend das freundliche Danke. Ich notierte mir: Nicht aufs Sprachbild reinfallen. Sieh den Menschen unbedingt ins Gesicht, nur dann kannst du ihre Stimmung abschätzen.
Die Kassiererin nahm also das Bier vom Band und ließ es hinter sich verschwinden. Einsam lag der Pudding vor mir. Ich zahlte, nahm den Plastikbecher, steckte ihn in meine Jackentasche, lief frustriert zurück ins Haus und setzte mich an den Rechner.
Und siehe: Das Internet war wieder da …
5
Für Peter P.
Oder:
Der Tag beginnt wie jeder
ein paar Sätze aus der Feder
nichts Schlimmes ist hier abzusehen
doch Menschen kommen, Menschen gehen
Wie gehabt begann der Tag mit Schreiben. Kurz nach neun war’s. Kaffee, Zigarette, Laptop. Schreiben bis eins, dann Essen und fertig machen für den Abstecher ins Zentrum von Tampere. Nur schnell einen Monitor im Büro des DKT holen und mit einer der Studentinnen, Maija, zum R- Kioski wegen einer Internet-Prepaidkarte, damit ich in den kommenden Tagen streamen kann. Das hiesige Wlan ist einfach zu dünn und über meine mobilen Daten verlor ich schon bei drei Stunden Stream am Dienstag 5 GB.
Draußen war es ungemütlich. Ein eisiger Sturm wirbelte den Schnee auf, der mir mit arger Rasanz ins Gesicht wehte. Das waren echt schon Schmerzen. Wie tausende kleiner Nadelstiche. Ich sagte es bereits: Als Kind hatte ich zum letzten Mal eine Mütze auf. Als ich, nachdem alles erledigt war, den Monitor im Beutel und die Prepaid Karte in der Tasche hatte, mich dankend von Maija verabschiedete und an der Busstation stand, war es denn soweit. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hatte ich eine Mütze auf dem Kopf. Jetzt erwies es sich als gut, dieses Ding doch gekauft zu haben.
Nach zehn Minuten Warten, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlten, kam der Bus. Den Plan, hier in Tampere noch in eine Kneipe zu gehen, verwarf ich. Wenn es jetzt schon so scheiße kalt war, und es war gerade mal um vier, dann würde es am Abend sicher noch ungemütlicher sein. Also fuhr ich zurück nach Haihara und überlegte im Bus noch kurz, ins dortige Pub zu gehen. Aber als ich ausstieg, schneite es wie verrückt, der Sturm wehte mir die Eiskristalle ins Gesicht, ich wollte nur nach drinnen, wollte die Karte in mein zweites Smartphone bauen und schauen, wie das Netz nun war.
Der Speedtest ergab: 16 Mbits/s Download und 6,4 Mbis/s Upload. Immer noch sehr dünn, aber im Zweifelsfall ausreichend, um zu streamen. Drei Stunden sprach ich mit meinem IT Spezialisten und Freund RG Murdock, den ich Remote-RG nenne, weil er sich mittels einer Software auf meine Rechner schalten und alles verwalten und einrichten kann. Ich habe zwei linke Hände, was das angeht und ohne RG keine Streams. Ich wäre aufgeschmissen. Nichts, außer schreiben und ein bisschen surfen würde ich mit dem Rechner machen.
Drei Stunden später waren wir fertig. Das Netz war eingerichtet, die Streaming-Programme konfiguriert, und die Uhr zeigte 19.30 Uhr. Ich war müde. Ich hatte in den letzten Tagen im Schnitt 10, 12 Stunden gearbeitet, nur wenig geschlafen, also beschloss ich, mir etwas zu kochen und dann zum Essen irgendeine Doku zu schauen.
Noch am Herd griff die Müdigkeit, das hinterlistige Miststück, so böse zu, dass ich mich nur mit einem Bier aus ihrem Würgegriff befreien konnte. Aber ich wusste, dass das ein Fehler war. Da stand ich nun auf der hölzernen Veranda, rauchte eine Zigarette, das Bier zeigte Wirkung.
Ich wollte Menschen sehen. Nicht den vierten Abend allein am Waldrand verbringen. Nicht den vierten Abend im Stillen, allein am Rechner sitzen, Filmschnitt und Texte, Bildbearbeitung und Social Media … ich wollte echte Menschen sehen. Fürs Pub war’s zu spät. Außerdem stand ja noch das Essen auf dem Herd. Das war zwar nun fertig, aber mit der Müdigkeit tilgte das Bier auch den Appetit.
„Scheiß auf essen.“ sagte ich mir, nahm den Satz mit der Sehnsucht mit nach drinnen und setzte mich im Arbeitszimmer an den Rechner, um zu schreiben.
Was Alkohol so anrichten kann… Es ist unglaublich. Die einen macht er aggressiv, bringt sie dazu, gewalttätig zu werden, die anderen zieht er runter, zerstört sie, bringt sie um, und mich … mich macht er gesellig. Schon während des ersten Bieres ertrage ich die Einsamkeit nicht. Dann will ich mich mit Menschen unterhalten, will ein bisschen Stimmung oder wenigstens indirekte Gesellschaft, indem ich in einem Pub, einer Kneipe sitze, am südlichen Ende der Bar, oder in einer stillen Ecke am Fenster, um zu beobachten, um zu schreiben.
Tja, da saß ich nun. An einem Freitag kurz vor zehn Uhr abends. Mit einer Mahlzeit auf dem Herd, auf die ich keinen Appetit mehr hatte, keine Lust, hier weiter allein zu sein.
Das erste Bier war inzwischen leer, und ich überlegte, mir das zweite zu öffnen. Mehr hatte ich bewusst nicht gekauft. Eines aber stand nun fest: Egal, wie das Wetter morgen werden würde, noch einen Abend ohne Gesellschaft ertrage ich nicht. Ich würde ins Zentrum fahren, mir eine Kneipe suchen und dort versacken.
Die Ruhe machte mich auf seltsame Art und Weise träge. Mein mich immer wieder zur Erschöpfung bringender Arbeitsdrang, die Tatsache, dass ich nicht stillsitzen kann, immer etwas zu tun haben muss und will, verlor sich hier ein bisschen. Ich saß an meinem Schreibtisch im Arbeitszimmer, blickte aus dem Fenster in diese malerische Winterlandschaft und bemerkte zunehmend noch etwas Neues: Mich zieht’s nach draußen. Winter, das hatte ich nun mehrfach schon gesagt, ist mir stets ein Argument gewesen, drinnen zu bleiben, nur für die nötigsten Dinge das Haus zu verlassen. Es war mir stets ein Graus, wenn meine inzwischen älteren Kinder, damals, als wir in Deutschland auch noch hin und wieder Schnee hatten, kaum, dass es weiß draußen wurde, den Schlitten aus dem Schuppen zerrten und es nicht erwarten konnten, dem Spaß in der Kälte zu frönen.
„Schneeballschlacht und Schneebahn bauen, Winter ist so schön.
Es hat geschneit die ganze Nacht. Wir wollen rodeln geh’n.“ – ein Kinderchor aus alten Zeiten sang in meinem Kopf jenes nervige Kinderlied.
Schlittenfahren… das hieß frieren. Das hieß, nasse Klamotten, steif gefrorene Finger, Frostschmerz, der an den Ohren nagt. Und das hieß auch, das elende Holzding einen Berg hochzuzerren, um wenige Sekunden darauf sitzend runterzurutschen, um es wieder hochzuzerren, um runterzurutschen ….
Der frierende Sisyphos wird zum schwitzenden Sisyphos, was Sisyphos dann noch mehr frieren lässt. Denn wo das Schwitzen die unteren Schichten der stofflichen Zwiebelhaut wässert und die Feuchtigkeit sich zunehmend in die äußeren Schichten arbeitet, vereinen sich Kälte und Feuchtigkeit irgendwann … Und genau das ist es, was ich am meisten hasse! Deswegen hasse ich alles, was mit Anstrengung im Winter zu tun hat. Umzüge zum Beispiel.
Eine Weile habe ich mir als Umzugshelfer nebenbei ein bisschen Geld verdient. Nach nur zwei Umzügen im Dezember 2009 habe ich das dann gelassen. Denn vom siebten Stock runter, ein vier Personen Haushalt, in den vierten Stock hoch, alles an einem Tag, das war die Hölle. Du kommst oben an, es ist warm, du ziehst Jacke und Pullover aus, fängst an, die Möbel runter zu tragen und kommst spätestens beim dritten Gang ins Schwitzen. Das T-Shirt ist dann klatschnass und immer, wenn du draußen am Transporter ankommst, wird der Stoff schockgefroren. Dieses Frieren ist ein anderes Frieren als das normale Frieren, weil die Klamotten gefrieren. Es ist die Hölle.
Das Telefon klingelte. Tristan Rosenkranz stand auf dem Display. Ich hatte erst am Morgen mit dem Verleger und Freund telefoniert und dachte, es ginge um die Leipziger Buchmesse, den Verlagsstand und die Abendveranstaltung mit Autorinnen und Autoren der Edition Outbird. Aber dem war nicht so.
Ich hörte es schon an seiner Stimme, dass da irgend etwas passiert sein musste. „Buchmesse nun wohl doch abgesagt.“ dachte ich mir. Wenn es nur das gewesen wäre …
Er teilte mir mit, dass ein enger Mitarbeiter des Verlages, bester Lektor und guter Bekannter, gestorben sei. Tristans Stimme bebte. Ich merkte, wie verdammt nahe ihm das ging. Einmal mehr, denn in den vergangenen drei Jahren „verloren“ wir schon zwei enge Mitstreitende des Verlages.
Corina Gutmann und auch Andreas Hähle verloren den Kampf gegen den Krebs. Corina war als Chefin der Bibliothek im thüringischen Greiz unersetzbar. Ihr Tatendrang und ihre unkonventionelle Art machten die Einrichtung über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Unzählige kleine, aber auch große Veranstaltungen organisierte sie, holte Dr. Mark Benecke nach Greiz und Gunther von Hagen. Auf ihn freute sie sich besonders. Nur erleben durfte sie das nicht mehr.
Sie organisierte sogar ihr eigenes Abschiedsfest, als nach kurzer Zeit der Genesung dann doch der Krebs, dieses Arschloch unter den Krankheiten, erneut zuschlug. Mehr als einhundert Menschen versammelte sie in der „alten Papierfabrik Greiz“, einem wundervollen Veranstaltungsort, zu dem sie mich über ihre vorbildliche Netzwerkarbeit einige Jahre zuvor brachte und dessen Betreiberinnen und Betreiber inzwischen Freunde geworden sind.
Ein rauschendes Fest war das. Und sie ließ sich kaum das Wissen anmerken, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Die Lebensfreude war ihr nicht verloren gegangen. Auch jetzt nicht, als sie schon völlig abgemagert im Rollstuhl daher kam. Mit einem ehrlichen Lächeln auf den Lippen, der für sie so typischen Offenheit in ihrem Blick. Drei Monate später musste sie gehen …
Auch Andreas Hähle, ein großartiger Autor und Sprecher, Netzwerker und Liedtexter für so viele Bands im Osten Deutschlands erlag dieser Krankheit.
Und beide Verluste waren gerade für Tristan nur schwer zu ertragen. Und nun das.
„Hallo Kruppe … Ich muss dir sagen, dass der Peter gestern gestorben ist …“
Diese typische Stille, die sich in einem breit macht, wenn eine solche Nachricht ankommt. Dieses seltsame, leise Rauschen … Als würde der Fluss des Lebens in diesem Augenblick tosen.
Peter war gerade einmal 49 Jahre alt. Unter Tränen erzählte Tristan, dass er einfach umgefallen sei. Keine Vorzeichen, keine bekannten Krankheiten, nichts. Einfach umgefallen. Tot.
Mir verschlug es zunächst die Sprache. Ich kenne solche Nachrichten schon. Und immer wieder ereilen sie mich am Telefon. Das war so, als Janine auf der Autobahn tödlich verunglückte. Janine war einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Wir liebten uns, ohne uns zu begehren, ohne dem Gegenüber Liebesbeziehungen zu neiden oder eifersüchtig zu sein. Wir waren ein Verbund, wie Geschwister, nur auf einer anderen Ebene.
Damals rief ein gemeinsamer Freund an, sagte nur kurz: „Kruppe, setz dich besser hin jetzt. Janine ist tot.“ Ich sagte noch, dass man damit keine Scherze mache. Aber das war kein Scherz.
Das war auch so. als der langjährige Freund meiner Schwester und Vater ihrer beider Tochter starb. „Sitzt du? Der U. Ist tot.“ Das war zwei Tage nach der Geburt meiner jüngsten Tochter. Einfach tot. Weg. Auch er war gerade einmal 50.
Ich habe das Glück, bislang nur eine nahe Verwandte verloren zu haben. Und vielleicht liegt es daran, dass ich immer wieder bei solchen Nachrichten einfach verstumme. Äußerlich wie innerlich. Ich spüre dann nichts. Rein gar nichts. Auch, als meine Oma starb, spürte ich nichts. Nicht, als ich die Nachricht bekam, nicht bei ihrer Beerdigung. Nur diese typische Stille, die sich in einem breit macht, wenn eine solche Nachricht ankommt. Dieses seltsame, leise Rauschen … Als würde der Fluss des Lebens in diesem Augenblick tosen.
Viele Freunde und Bekannte sind schon gegangen, auf einigen Beerdigungen war ich schon. Auf manchen gar als Redner. Aber ich spürte nichts.
As ich die Grabrede für Corina Gutmann hielt, überkam es mich fast, das Heulen. Aber das lag eher am Mitleid, denn ich stand ihrem Mann gegenüber, ihren Kindern und Enkeln, die trauerten, weinten. Das ergriff mich. Nicht jedoch der Tod dieser Menschen selbst. Da war nur immer diese typische Stille, die sich in einem breit macht. Dieses seltsame, leise Rauschen … Als würde der Fluss des Lebens in diesem Augenblick tosen.
Vielleicht stimmt etwas nicht mit mir? Vielleicht verdränge ich unbewusst solche Nachrichten, diesen Schmerz des Verlustes? Vielleicht schwebt über mir das Argument, dass Trauer nur Egoismus sei, was ich natürlich hier nicht als Behauptung in den Raum stellen will.
Es ist immer nur ein Verstummen. Dann wird es leiser in mir. Als ob eine der vielen Stimmen in meinem Kopf plötzlich weg ist.
Nun also auch Peter. Dieser eloquente, smarte, stilvolle, kluge Typ, dieser Sprachperfektionist, dieser höchst gebildete, fast stoische Mensch mit dem gepflegten Vollbart. Einfach weg. Und zurück blieb diese typische Stille, die sich in einem breit macht. Dieses seltsame, leise Rauschen … Als würde der Fluss des Lebens in diesem Augenblick tosen. Als wäre einmal mehr, eine Stimme in meinem Kopf … nicht … mehr … da ….
6
Tiere, der Winter und ich
oder:
Was tippelt leise unterm Dach?
Die Mitbewohner sind schon wach?
Ich untersuche diesen Ort.
Doch die Nager sind schon fort.
Grau und beinahe still lag der Sonntagmorgen vor mir. Nur das entfernte Rauschen der Autobahn war zu hören. Es schneite – kaum wahrnehmbar. Nur, wenn ich auf die roten Dachziegel der Kulturscheune rechts von mir blickte, konnte ich sehen, wie sich die winzigen Flöckchen senkten. Als wollten sie ganz heimlich die mit Spuren übersäte Einfahrt mit ihrem frischen Weiß bedecken, ihr eine neue, winterliche Jungfräulichkeit geben. Gibt es etwas Unschuldigeres als eine geschlossene Schneedecke, auf der noch kein Tier, kein Mensch Spuren hinterließ?
Tiere. Derer gab es hier einige. Doch beim Aufwachen zweifelte ich an meinem Verstand.
Ich lasse mich ja nicht von einem gewöhnlichen Wecker wecken, sondern, wie wohl fast alle Menschen inzwischen, von meinem Smartphone. Ein sanftes, leise beginnendes Geräusch, in meinem Fall eine akustische Waldatmosphäre, das dann immer lauter wird, bis man entweder die Snooze Funktion nutzt oder es ausschaltet und direkt aus dem Bett springt.
Die Weckfunktion rief mich also ins bewusste Leben zurück, und ich hörte, wie über mir auf dem Dachboden kleine Pfoten aufgeregt zu tippeln begannen. „Also doch“, dachte ich, denn ich vermutete schon die ganze Zeit, dass ich hier nicht allein in diesem Haus lebe. Nicht selten beobachtete ich die emsigen Eichhörnchen, die hier wohl in einer Großfamilie lebten, wie sie die hölzerne Fassade nach oben unters Dach krabbelten. Nie jedoch sah ich sie ihr potentielles Ziel erreichen, denn immer und immer wieder bemerkten sie mich, wenn ich draußen stand, um eine Zigarette zu rauchen, und brachen dann ihr Unterfangen ab.
Heute Morgen aber dann der Beweis. Die wohnen da. Irgendwo auf dem Dachboden. Den Zugang kannte ich, also beschloss ich, nach dem Aufstehen da mal nachzusehen, und schloss noch einmal die Augen.
Aber schlafen war nicht mehr drin. Aufregung beherrschte das Haus. Über mir und in mir. Oben waren es die kleinen Nager, die wohl verärgert ob des frühen Gewecktwerdens, hin- und herliefen und überlegten, wie wohl der Sonntagmorgen begonnen werden könnte. Frühstück? Zwei Fichtenzapfen, drei Eicheln und gegen den Durst mal am Eiszapfen an der Dachrinne genuckelt? Oder doch erst mal raus, Frühsport mit den Kids. Die Birken hoch, die Fichten runter, die Birken wieder hoch, übers Dach durch den Garten und zurück ins Warme …
Nach einer Weile wurde es still. Nichts war mehr zu hören. Also stand ich auf, um oben nachzusehen. In einer kleinen Nische im Flur war die Klappe zum Dachboden. Eine Art fest verschraubte Sprossenwand diente als Leiter. Oben angekommen fand ich … nichts. Nicht das geringste Indiz einer tierischen Koexistenz. Vermittels meiner Smartphone-Taschenlampe (was wären wir nur ohne diese Dinger?) suchte ich, leuchtete den Boden ab, die Ecken aus, aber da war rein gar nichts. Keine Spuren, kein Nest, keine Essensreste, kein Kot … nichts.
Nun zweifelte ich an meiner Zurechnungsfähigkeit. Hatte ich das alles nur geträumt? Sollte ich vielleicht einmal Mehl ausstreuen, um hier doch noch Beweise sichern zu können? Nur so, um mir selbst zu beweisen, dass ich noch bei Sinnen war?! Aber ach, dachte ich, diese Sauerei dann weg zu machen, zu kehren, wo man kaum aufrecht stehen kann, das wäre zu viel des Guten.
Ich beschloss, erst einmal Kaffee zu machen und meine erste Zigarette zu rauchen. In Ruhe. Nicht schon jetzt Nachrichten und die neuesten Social-Media-Meldungen zu checken, den ersten Schluck Kaffee, die erste Zigarette ohne Radio, ohne Facebook, WhatsApp, Telegramm, SMS, Mails und Instagram zu genießen. Das erfordert schon einen gewissen inneren Zwang, denn das ist das morgendliche Tor in den Tag, in die Arbeit. Abgesehen von der nie abnehmenden To-Do-Liste sind dies die Eckpfeiler dessen, was in den nächsten Stunden gemacht werden muss. Und aus eben diesem Grund nimmt diese To-Do-Liste nie ab. Immer kommen neue Sachen hinzu, weil mein permanenter Drang nach immer Neuem gerade auf dem Gebiet Arbeit niemals ruht. Und niemals ruhen ist auch eine Maxime im Leben Kruppe. Viel zu lange habe ich in den Tag hinein gelebt, habe ohne Sinnvolles zu machen, die Tage verlebt, verschwendet, und es scheint, dass jener Drang eine Art Prozess des Aufholens ist.
Zu lange liefen meine Tage ins Leere. Mittags aufstehen, fernsehen, um irgendwann am Nachmittag ein paar Bier, eine Flasche Wodka zu besorgen, sich in die Nacht trinken, um dann irgendwann sturzbesoffen in irgendein Bett zu fallen, auf eine Couch, eine Isomatte, um erneut bis Mittags zu pennen. Entweder bei Freunden, Saufkumpanen oder in der eigenen Wohnung. Irgendwann begründete ich meine Sauferei damit, schreiben zu wollen, denn ich meinte damals, nur schreiben zu können, wenn ich gut im Tee war.
Was für ein Schwachsinn! Heute weiß ich, dass Schreiben niemals ein Prozess des Rausches ist. Freilich, gute Ideen, surreale Formulierungen können im Rausch, in der Wirkung verschiedener Drogen gut sein, können einzigartig sein mit der Verstärkung des Seins, der Veränderung des Bewusstseins durch irgendwelche Substanzen. Aber ich weiß heute eben auch, dass ich, wenn überhaupt, ein mittelklassiger Schreiber bin. Und somit nimmt sich der überbordende Ernst aus der Sache. Nicht, dass ich das Schreiben nicht ernst nehme. Damals aber habe ich MICH zu ernst genommen. Das Schreiben war nur ein Alibi. Eine Ablenkung vom Eigentlichen.
Während ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass es gar nicht so ruhig war, wie ich meinte, wahrgenommen zu haben, als ich auf die hölzerne Veranda des Hauses trat. Erst jetzt hörte ich all die Vögel rund um mich. Spatzen, Meisen, Krähen und da … war das nicht der Warnruf eines Eichelhähers? Ein Gezwitscher und Getobe war da in den Wipfeln der Fichten und Birken ringsumher, als sei eine morgendliche Versammlung des Federviehs im Gange. War das im Winter in Deutschland auch so? Ich versuchte mich an einen Winter in Deutschland zu erinnern. Es gelang mir nicht.
„Winter in Deutschland-“ wiederholte ich flüsternd und musste lachen. Was waren die Winter der letzten zehn Jahre in Deutschland gegen diesen hier in Finnland? Wenn man nicht gerade in den Alpen, auf dem Brocken, im Thüringer Wald oder in all den anderen Mittel- und Hochgebirgsregionen lebte, war Winter ein Begriff, den man Kindern unter zehn Jahren erklären musste. Sie kannten Winter nur aus Büchern.
Waren die Winter, die richtigen meine ich, nicht immer sehr sehr still? War es nicht so, dass man keinen Vogel hörte und nur dann welche sah, wenn man vorm Fenster eine Vogelkrippe, Meisenknödel oder ähnliches hatte?
Was haben wir uns immer gefreut als Kinder, wenn das Geflatter und Gepicke vor den Fenstern losging, kurz nachdem wir das Futter mit elterlicher Hilfe in die Vogelhäuschen gegeben hatten und dann gespannt und auf mütterlichen Geheiß bewegungslos auf einem extra bereitgestellten Stuhl saß, um das „Vöglein“ zu beobachten?! …
Wie schlimm war es damals schon für mich, stillzuhalten, Geduld aufzubringen. Nach nur wenigen Minuten hielt ich das Stillsitzen nicht mehr aus. „Wenn der blöde Vogel nicht kommt, hat er eben Pech! Scheißvieh!“ Und dann widmete ich mich wütend anderen Dingen. Und wenn Mutter dann rief: „Jetzt sind zwei Meisen da!“ und ich zum Fenster rannte und die Biester ob dessen erschraken und verschwanden, wurde die Wut noch größer. Vielleicht hatte ich deswegen irgendwann mein ornithologisches Interesse verloren und Vogelgezwitscher nie mehr wirklich bewusst wahrgenommen.
Diese Einkehr hier im finnischen Haihara, diese direkte Nähe zur Natur, zu sich selbst auch, weil keine Menschen hier in diesem Häuschen waren, die ablenkten, machte etwas. Etwas, das ich ich von nirgendwo anders her kannte. Die Wahrnehmung der Umwelt intensivierte sich. Plötzlich hörte ich die Vögel und dachte über mich selbst nach. Plötzlich spürte ich Kälte, richtige Kälte, nahm sie aber nicht mehr als so unangenehm wahr. Plötzlich war ich im richtigen Winter, und meine Abneigung gegen diese Jahreszeit wandelte sich. Ich konnte es auf einmal genießen, im Schnee spazieren zu gehen …
Es war, als breite der finnische Winter in diesem Augenblick seine Arme aus, um zu sagen: „Sei willkommen mein Freund.“
Kai kam mir in den Sinn. Der kleine Junge, der den Splitter ins Auge bekam. Kai, der beste Freund Gerdas, der seinen Schlitten an den der Königin band, um schneller zu sein als alle anderen Kinder. Kai, der im Banne der Göttin alles vergisst, nichts mehr fühlt, die Kälte nicht nur um ihn, sondern auch in ihm existiert. Kai, der den Winter als Heimat sieht, in diesem Schloss aus Eis und Schnee.
Und der dann doch gerettet wird, von den Tränen seiner Freundin, die die Tortouren der jahreszeitlichen Götter auf sich nimmt, mit der Kraft ihrer Liebe zu ihrem Freund.
Ich beschloss, noch ein bisschen draußen zu bleiben, holte mir noch einen Schluck Kaffee und drehte mir eine zweite Zigarette. Von jetzt auf gleich war meine Abneigung jener Jahreszeit gegenüber, dem Schnee, der Kälte, dahin.