Joachim Hartmann war ein zufriedener Mann. Er hatte es in dem Beruf, von dem er schon als Student geträumt hatte, recht weit gebracht, und er war seit kurzem mit einer Frau verheiratet, die ihm aufrichtig zugetan war. Corinna, seine Frau, hatte eine beträchtliche Summe geerbt, und von dem Geld kauften sie sich einen der eingeschossigen, pastellfarbenen Bungalows, die 1956 für US-Offiziere am zur Nazizeit angelegten Dreipfuhlpark gebaut worden waren. Passend zur amerikanischen Vorstadtidylle zwischen den Dahlemer Villen stellten sie sich einen Porsche Cayenne für sie und einen Mercedes SLK für ihn in die Auffahrt und beschlossen, nicht mehr einfach nur zufrieden, sondern glücklich zu sein.
Das heißt, Corinna beschloss es für beide. Sie war nicht mehr ganz jung mit ihren sechsundvierzig Jahren, und Joachim wusste, dass ihre bisherigen Beziehungen durchweg traumatisch verlaufen waren. Er wusste auch, dass sie alle ihre Hoffnungen auf ihn setzte. Kurz nach ihrem Kennenlernen hatte er ihr einmal gesagt, dass er nicht mehr vorhatte zu heiraten. Diese Erfahrung einmal im Leben gemacht zu haben, reichte ihm vollkommen. Sie hatte damals genickt und gesagt, sie verstehe ihn. Doch zwei Jahre später hatte er sich auf dem Standesamt wiedergefunden, und im Grunde war es ihm dann auch schon wieder gleichgültig gewesen. Wer einmal geheiratet hatte, der konnte es auch ruhig ein zweites Mal tun.
Außerdem sprach viel für ihre Ehe. Sie hatten zum Beispiel ähnliche Interessen: Er arbeitete für das Feuilleton einer großen Tageszeitung als Bühnenkritiker, sie war die Staatssekretärin für kulturelle Angelegenheiten in der Hauptstadt. So hatte man privat wie auch beruflich immer genügend Themen und Berührungspunkte. Letztens erst hatte man ihm einen nicht unwichtigen Kulturpreis verliehen, und natürlich war dank Corinna die halbe Politprominenz Berlins zu der Feier gekommen. Corinna war außerdem zu alt, um noch Kinder zu wollen, was bei einer jüngeren Frau vielleicht ein Problem gewesen wäre. Außerdem schätzte er ihre ruhige, kluge Art. Und da beide über solide finanzielle Mittel verfügten, konnten sie eine entspannte, gleichberechtigte Partnerschaft führen. Corinna war also glücklich. Joachim war zufrieden. Bis er das Mädchen aus dem Renoir-Gemälde leibhaftig vor sich sah.
Er traf sich an diesem Tag mit seinem Freund Robert, einem Choreographen vom Berliner Staatsballett. Joachim setzte sich gern in die Proben. Nicht, wenn die Tänzer noch auf der Probebühne arbeiteten. Dort war kein Platz für ihn. Aber sobald sie auf der großen Bühne waren, saß er im dunklen Zuschauerraum und sah einfach nur zu. Bewunderte die durchtrainierten, biegsamen Körper, die definierten Muskeln, die kein Gramm Fett zuließen, die anmutigen Bewegungen, durch die die Körper zu Maschinen wurden, denen alles möglich schien. Joachim dachte dann nicht an die Menschen, die er dort sah. Nur an die Figuren, die sie tanzten, die Musik, der sie Gestalt gaben.
Das wurde heute anders, denn er sah das Mädchen, und sie sah genauso aus, wie er sie seit fünfundzwanzig Jahren vor sich gesehen hatte: rotblondes Haar, große blaue Augen und diese stille Sehnsucht im Blick. Er sah sie beim battement tendu, und zum ersten Mal wurde eine der Figuren auf der Bühne zu einem echten Menschen. Das Renoir-Gemälde war aus dem Rahmen getreten und tanzte für ihn.
Seit seiner Studienzeit hatte der Druck von Renoirs »Danseuse« in keiner seiner Wohnungen fehlen dürfen. Auch im neuen Haus am Dreipfuhlpark hing es in seinem Arbeitszimmer über dem Schreibtisch. Vier Wochen hatte es gedauert, bis er es endlich hatte aufhängen können, denn der letzte Druck hatte den Umzug nicht überstanden, und die Lieferung des neuen hatte sich unerträglich in die Länge gezogen. Erst war es zu einer Verwechslung gekommen und man hatte ihm ein kitschiges Klimt-Bild geschickt. Dann hatte man ihn mit Lieferschwierigkeiten hingehalten, und schließlich war der Druck an die falsche Adresse gegangen. Vier Wochen ohne seine »Danseuse« – seine Frau hatte ihn ausgelacht, weil er so sehr an diesem Bild hing, aber dann, als es endlich da war, hatte sie sein Gesicht gesehen, seine Augen, die warm und zufrieden über die junge, blasse Gestalt glitten, und sie hatte sich nie wieder über ihn lustig gemacht.
Seit seiner Studienzeit hatte er dieses Mädchen vor Augen gehabt, es hatte sich nie verändert, nie bewegt, nur mit seinen großen blauen Augen knapp an ihm vorbei gestarrt, bis sie nun heute vor ihm tanzte.
Sein Freund Robert weckte ihn aus einem Zustand zwischen Tagtraum und Schockstarre, als die Tänzer längst verschwunden waren. Robert merkte nicht, was mit ihm war. Er dachte, sein Freund sei in Gedanken, weil er zu viel arbeitete. Auch Joachims Frau merkte nichts, oder vielmehr, er gab sich allergrößte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, und das gelang ihm auch. Tagsüber, wenn sie in ihr Büro verschwand, stahl er sich zu Roberts Proben, blieb aber nie länger als eine halbe Stunde, schaffte es sogar, von Robert gänzlich unbemerkt zu bleiben. Da man ihn im Haus kannte, hatte er keine Mühe hereinzukommen, und so fiel er niemandem wirklich auf. Er achtete darauf, dass seine Arbeit nicht unter dieser Ablenkung litt, die ihm das Mädchen verschaffte. Im Gegenteil, er strengte sich noch mehr an als sonst und lief in der Redaktion zu Höchstform auf.
Aber nach einer Woche funktionierte es nicht mehr. Er wusste, dass ihm die halbe Stunde nicht mehr lange reichen würde. Es wäre auch sinnlos, länger im dunklen Zuschauerraum zu sitzen und sie anzusehen. Er würde mit ihr sprechen müssen.
Robert erzählte er, er würde einen großen Artikel über die Inszenierung planen. Dazu wollte er mit der Solotänzerin reden. Ein großes Talent, das er zu porträtieren gedenke. Robert stellte sie ihm nur allzu gern vor. Ein großer Artikel über seine Inszenierung, was wollte er mehr. Er achtete nicht darauf, wie die Augen seines Freundes über die Gestalt der Tänzerin glitten.
Das Mädchen sah aus der Nähe betrachtet nicht so jung aus wie auf dem Bild, und das beruhigte Joachim. Sie war Anfang zwanzig und hieß Helene. Sie sagte ja, als er sie bat, sich bei einem gemeinsamen Essen interviewen zu lassen. Er entdeckte Freundlichkeit in ihren Augen. Aber ihr Blick ging knapp an ihm vorbei, und so war es auch bei dem Essen, bei dem sie nicht mehr als ein paar Salatblätter verzehrte und nichts als stilles Wasser trank. Nie schien sie ihn direkt anzusehen, ganz so wie das Mädchen in dem Bild.
Nach diesem Essen konnte er die ganze Nacht nicht schlafen. Er wälzte sich unzufrieden herum und dachte darüber nach, wie er sie dazu bringen könnte, ihn endlich anzusehen. Vielleicht würde es Zeit brauchen, und um diese Zeit zu bekommen, entschied er sich, das Interview mit ihr nicht in der Zeitung zu bringen. Noch nicht, wie er ihr sagte, denn er hätte etwas anderes vor, als sie nur im Rahmen der anstehenden Premiere als Solotänzerin vorzustellen. Er wollte etwas Größeres über sie bringen, eine Reportage, vielleicht sogar beim Fernsehen, denn er hatte exzellente Kontakte, und sie schwieg, als er ihr davon erzählte, schwieg und sah wieder knapp an ihm vorbei, obwohl sie lächelte.
Von nun an wich er ihr kaum noch von der Seite. Er erschien, wenn sie ihr morgendliches Aufwärmtraining hatte, er ging zu ihren Proben, er saß neben ihr, wenn sie das Wenige aß, das sie essen durfte, damit sie nicht zunahm, er ließ sie nur in Ruhe, wenn sie ihre Stunden bei der Physiotherapeutin hatte. Er bewunderte ihre definierten schlanken Muskeln, liebte es, wie sie ihre Trainingskleidung auf links trug, damit die Nähe nicht scheuerten, fand es aufregend, wie sie mit ihrem Tanzpartner die Liebesszenen übte, hatte Mitleid, wenn er sah, wie sie versuchte, ihre Schmerzmittel so zu nehmen, dass es niemand bemerkte. Er hörte zu, wenn sie darüber sprach, wie sie schon als Kind nur ein Ziel hatte, nämlich zu tanzen, wie sie sich gegen ihre Eltern durchsetzen musste, die einen Bauernhof in Vorpommern hatten, und wie für sie das Berliner Staatsballett immer der größte Traum ihres Lebens gewesen war.
Er ließ sich keine Gefühlsregung anmerken. Er blieb unverbindlich und höflich, kam nie zu früh zu Verabredungen und blieb nie zu lang, und als er genug Material für eine Reportage zusammen hatte, als die Zeit reif war, endlich sein Versprechen einzulösen, den Redakteur vom Fernsehen anzurufen, irgendetwas zu tun, da schreckte er wieder davor zurück, wälzte sich die ganze Nacht herum und dachte daran, dass sie ihn immer noch nicht ansah.
Er ärgerte sich. So sehr, dass er entschied, sie einfach aus seinem Gedächtnis zu streichen.
Er fand aber keine Ruhe. Im Gegenteil. Nun, da er sie nicht mehr sah und auch keinen Grund hatte, sie zu sehen, dachte er noch öfter an sie als zuvor. Er redete sich ein, es sei das schlechte Gewissen, weil er ihr mehr versprochen hatte, als er schließlich einzulösen bereit gewesen war. Also rief er den befreundeten Fernsehredakteur an, von dem er ihr erzählt hatte, schickte ihm seine Notizen über die Probenarbeit und überredete ihn, einen TV-Beitrag über das Ballett zu machen, mit ihr im Mittelpunkt.
Wochen später lief der Beitrag tatsächlich im Fernsehen. Er sah ihn sich zusammen mit seiner Frau an, die nebenbei noch an einer Rede herumschrieb und deshalb nicht bemerkte, wie er sich quälte. Joachim konnte immer noch nicht ruhig schlafen, denn natürlich war es nicht das schlechte Gewissen gewesen, das ihn wachgehalten hatte. Es war der Ärger darüber, dass sie ihn nie richtig angesehen hatte. Wie das Mädchen von Renoir. Den Renoir hatte er mittlerweile abgehängt, seine Frau hatte es nicht einmal bemerkt, da sie sein Arbeitszimmer so gut wie nie betrat. Nur die Putzfrau fragte ihn irgendwann nach dem hübschen Mädchen, ob sie das Bild haben könnte, sie würde es gern bei sich zu Hause hinhängen, wenn es ihm recht sei. Sie hatte es zusammengerollt hinter dem Bücherregal gefunden. Er nickte, war fast schon erleichtert, glaubte, endlich von diesem Mädchen befreit zu sein, ein für alle Mal. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht, das Bild zu verbrennen oder wegzuwerfen?
Weil es nichts half. Weil es ihn nun quälte, dass andere Augen über die Gestalt des Mädchens glitten, Augen, die gar nicht begreifen konnten, was sie da vor sich hatten. Das musste er schon eine Woche später einsehen. Noch immer fand er keinen Schlaf, obwohl er jetzt jeden Abend mit Rotwein nachhalf. Nach einigen Gläsern schrieb er morgens um zwei eine E-Mail an seinen Freund vom Fernsehen, in der er ihn um eine Kopie des Beitrags bat. Am nächsten Morgen hoffte er, diese Mail nur geträumt zu haben, aber schon am Abend überreichte ihm seine Frau einen Umschlag, den ein Kurierfahrer abgegeben hatte. Joachim verschanzte sich in seinem Arbeitszimmer und sah sich die DVD dreimal hintereinander an.
Sie sah ihm immer noch nicht in die Augen. Ihr Blick ging knapp an der Kamera vorbei.
Joachim wusste keinen Grund, wie er ein Wiedersehen mit Helene rechtfertigen sollte. Er dachte daran, eine zufällige Begegnung zu inszenieren. Dazu musste er ihre Tagesabläufe noch besser kennen, als er es ohnehin schon tat. Er fuhr zu dem Haus, in dem sie lebte, und beobachtete ihre Wohnung. Folgte ihr wie ein Schatten, trieb sich in dunklen Hofeinfahrten und hinter Mülltonnen herum, um nicht entdeckt zu werden. In der Redaktion hatte er sich krankgemeldet, denn schließlich fühlte er sich auch irgendwie krank, und es würde ihm erst besser gehen, wenn sie ihn ansah. Er sammelte alles, was er im Internet über sie finden konnte, und manchmal rief er sie mit unterdrückter Nummer an, in der Hoffnung, ihre Stimme zu hören. Wenn sie sich meldete, legte er schnell auf.
Nachdem ein paar Tage vorüber waren, postierte er sich in der Filmbühne, einem Café unweit der Universität der Künste, wo sie morgens oft frühstückte. Er saß im Wintergarten, versteckte sich hinter einer Zeitung und wartete, bis sie kam. Wartete, bis sie bestellt hatte, wartete, bis ihr mageres Frühstück gebracht wurde. Erst dann stand er auf, um sie zu begrüßen. Sie schreckte zusammen, wurde noch blasser, als sie ohnehin war, und er dachte zwei Sekunden lang, dass ihm dieses Entsetzen galt. Aber dann atmete sie erleichtert auf, fing sich, lächelte sogar. Sie bat ihn, Platz zu nehmen, entschuldigte sich für ihr Benehmen, erzählte mit gesenkter Stimme, seit ein paar Tagen das Gefühl zu haben, jemand verfolge sie. Außerdem bekäme sie geheimnisvolle Anrufe. Joachim gab vor, erschüttert zu sein. Bot seine Hilfe an. Behauptete zu wissen, was zu tun sei, und versprach ihr, sich um sie zu kümmern. Diesmal entdeckte er Dankbarkeit in ihrem Gesicht. Sie ging zwar nicht so weit, ihn zu umarmen, aber endlich sah sie ihn an. Und jetzt glaubte Joachim Hartmann, nicht mehr nur ein zufriedener, sondern ein glücklicher Mann zu sein.
Am liebsten wäre es ihm gewesen, er hätte in ihrer Gegenwart einen der anonymen Anrufe entgegennehmen und den Belästiger verschrecken können, aber das ging natürlich nicht. Also richtete er eine anonyme E-Mail-Adresse ein, von der aus er ihr schrieb, damit sie sich weiter belästigt fühlte. Wann immer sie eine neue Mail erhalten hatte, rief sie ihn an, damit er sie sich ansehen konnte. Er hatte behauptet, sein – erfundener – Freund bei der Polizei hätte gesagt, es sei das Beste, in einen Dialog mit dem Belästiger zu treten, um sozusagen den Zauber zu brechen, also berieten sie gemeinsam, was sie dem Unbekannten schreiben sollte. Die Mails waren alle unterschrieben mit »Ein Bewunderer«, und Joachim wurde in jeder Nachricht an Helene direkter. Anfangs noch schrieb er ihr vorsichtige Sehnsuchtsbotschaften, doch mit der Zeit lebte er an der Tastatur seine Begierden aus. Helene wurde immer ängstlicher und verstörter. Er riet ihr, wenn eine besonders aggressive Mail gekommen war, den Proben fernzubleiben und sich mit ihm in der Wohnung einzuschließen. Er brachte ihr Essen mit – Nervennahrung, wie er es nannte, überredete sie sogar, abends Alkohol zu trinken. Er versorgte sie mit den besten Weinen, und da sie schlecht schlief, organisierte er ihr Schlaftabletten. Als sie zwei Kilo zugenommen hatte, redete er ihr gut zu und versprach, mit Robert, dem Choreographen, über ihre Situation zu reden, er würde ihm alles erklären. Joachim aber sprach nie mit seinem Freund über Helene.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie zusammenbrach. Eines Abends saß sie apathisch in ihrer Wohnung, und er wusste, dass er aufhören musste. Um die Inszenierung abzuschließen, setzte er sich an ihren Laptop und schrieb eine Antwort, die dem »Bewunderer« ein für alle Mal zeigen würde, woran er war, und dann tat er so, als riefe er seinen Freund bei der Polizei an. Helene sagte er, sie habe nun nichts mehr zu befürchten, und nein, sie müsse diesem Mann auch nie begegnen, wenn man ihn verhaften und verurteilen würde. Es war so leicht. Das Mädchen glaubte ihm, vertraute ihm, hinterfragte nichts. Sie lebte so sehr in ihrem Tanz, dass sie sich kaum für andere Dinge interessierte, und er wunderte sich oft über die Fragen, die sie ihm stellte, und über die großen Augen, mit denen sie ihn ansah, wenn er ihr etwas von der Welt erzählte.
Sie sah ihn jetzt nämlich öfter an.
Obwohl die Mails ausblieben, besuchte er sie weiterhin, so oft er konnte. Und wurde von einem glücklichen Mann zu einem unglücklichen. Denn er merkte, dass er für sie eine Art väterlicher Freund geworden war. Eine Verbindung in die schwierige Alltagswelt, die sie überforderte. Sie brauchte ihn, aber nicht so, wie er es wollte. Er musste etwas tun, bevor es zu spät war. Er überlegte nicht lange und sagte ihr schließlich, dass er sie heiraten wollte. Auf der Stelle sei er bereit, sich scheiden zu lassen. Er hätte genug Geld, um ihr finanzielle Sicherheit zu bieten, er hätte hervorragende Beziehungen, um ihre Karriere zu befördern, kurz: Es gäbe keinen Besseren für sie. Und dass sie sich auf ihn verlassen konnte, hätte er ja nun hinlänglich bewiesen.
Noch während er sprach, merkte er, dass er einen Fehler gemacht hatte, denn sie sah ihn nicht mehr an. Sie sah wieder an ihm vorbei, und ihr Blick ließ sich nicht mehr auffangen. Die stille Sehnsucht war in ihren Blick zurückgekehrt, und der Blick galt nicht ihm. Zu schnell zu viel gewollt, dachte er und schob eilig nach, dass er verstehe, wenn sie Zeit brauche, darüber nachzudenken. Er verließ ihre Wohnung, fuhr nach Hause, ging in sein Arbeitszimmer, wo er mittlerweile fast jede Nacht schlief, und wartete.
Nach drei Tagen hielt er es nicht mehr aus und schickte Blumen. Auch am folgenden und darauffolgenden Tag. Dann rief er sie an, aber sie ging nicht ans Telefon. Er fuhr zu ihrer Wohnung, es brannte kein Licht. Er steckte eine Rose, die er mitgebracht hatte, in ihren Briefkasten. Wartete in seinem Wagen, der vor ihrem Haus parkte. Als sie gegen Mitternacht die Haustür aufschließen wollte, sprang er heraus und rannte auf sie zu. Aber sie schaffte es vor ihm ins Haus und warf ihm die Tür ins Gesicht. Er trat und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Rief ihren Namen. Aber sie kam nicht zurück. Als ein Nachbar den Kopf aus dem Fenster steckte und ihm mit der Polizei drohte, lief er zurück zu seinem Wagen und wählte ihre Nummer. Er ließ es so lange klingeln, bis der Anrufbeantworter dranging. Dann unterbrach er die Verbindung und wählte erneut. Nach dem zehnten oder elften Mal sprach er endlich auf den Anrufbeantworter und erklärte ihr, dass er nur ihr Bestes wollte. Flehte sie an. Sie nahm nicht ab. Endlich fuhr er zurück in seinen pastellfarbenen Bungalow und schloss sich mit zwei Flaschen Wein in seinem Arbeitszimmer ein. Er hörte, wie seine Frau zaghaft gegen die Tür klopfte, aber er ignorierte sie. Sie dachte, er arbeite an einem Buch, von dem er irgendwann einmal gesprochen hatte, deshalb ließ sie ihn in Ruhe. Er trank die erste Flasche aus und öffnete die zweite, als er wusste, was er zu tun hatte. Er würde ihr schreiben. Eine lange Mail.
Doch bevor er schrieb, las er die Nachrichten an ihn. Viele Mails aus der Redaktion, dort hatte er ebenfalls hinterlassen, er sei gerade mit sehr umfassenden Recherchen zu seinem Buch beschäftigt und arbeite von zu Hause. Eine Mail war von seinem Freund Robert, dem Choreographen. Und diese Mail änderte alles: Robert schrieb über Helene. Sicher könnte sich Joachim noch an das Mädchen erinnern, die, für die er dankenswerterweise die Fernsehreportage eingefädelt hatte. Das Mädchen habe sich in letzter Zeit verändert, sei nicht bei der Sache, verpasse Proben, achte nicht auf ihre Gesundheit … nun wollte er Joachims Rat: Dachte der Freund, das Mädchen sei ein herausragendes Talent, wertvoll genug, um eine zweite Chance zu verdienen? Das Leben als Tänzerin war hart, da konnte jeder mal einen Durchhänger haben. Oder war Helene einfach nur ein einstmals großes Talent, bereits auf dem Weg nach unten, ohne den letzten Schliff, den letzten großen Sprung geschafft zu haben? Robert selbst konnte sich diese Frage nicht beantworten, er schwankte von Stunde zu Stunde.
Joachim schwankte nicht. Er verwarf die Mail an sie, in der er um Verzeihung hatte bitten wollen, und schrieb ihr stattdessen von Roberts Zweifeln an ihr. Und dass er der Einzige sei, der sie retten könnte. Doch dafür müsste er mit ihr reden. Persönlich.
Am nächsten Morgen klingelte sein Handy. Sie war bereit, ihn zu treffen. Er brachte diesmal keinen Wein mit, sondern Champagner, und als er sie sah, erschrak er, weil sie nicht mehr nur blass, sondern kalkweiß war und tiefe schwarze Schatten unter den Augen hatte. Die zwei Kilo, die sie zugenommen hatte, waren wieder weg, sie wirkte sogar noch dünner als zuvor. Er versprach ihr, bei Robert nicht nur ein gutes Wort für sie einzulegen, sondern sie zum internationalen Star zu machen, wenn sie nur endlich mit ihm zusammen sein wollte.
Sie nickte und fing an, sich auszuziehen. Das sei es doch, was er wollte, sagte sie.
Joachim konnte sein Glück kaum fassen. Er folgte ihr ins Schlafzimmer, wo sie sich nackt auf ihr Bett legte und abwartete. Es war dunkel in dem Zimmer, die Vorhänge waren zugezogen, er konnte kaum etwas sehen. Er wollte sein Hemd aufknöpfen, aber sie hielt ihn zurück, nur die Hose reiche aus. Obwohl er sich kurz darüber ärgerte, konnte er seine Erregung kaum noch kontrollieren. Er kam in dem Moment, als sie ihre Hand nach ihm ausstreckte. Sie schwiegen ein paar Sekunden, dann zog sie Papiertücher aus der Box, die sie neben ihr Kopfkissen gestellt hatte, und wischte sich, immer noch ohne ein Wort, den Bauch ab.
Joachim wurde wütend. Er fragte sich, was er hier überhaupt tat? Er hatte eine nette Frau und ein Haus und einen guten Beruf. Helene passte gar nicht zu ihm, zu seinem Leben. Sie war nicht besonders intelligent, sie wusste kaum, was in der Welt vor sich ging. Und sie sah der Tänzerin von Renoir überhaupt nicht mehr ähnlich. Er hasste dieses dünne, bleiche Mädchen und konnte ihren Anblick nicht mehr ertragen.
Joachim zog den Reißverschluss seiner Hose hoch.
»Ich glaube, du hast gar nicht so viel Talent, wie ich immer dachte«, sagte er. »Ich glaube, du bist gar keine Künstlerin.«
Dann verließ er ihre Wohnung.
Am nächsten Tag rief ihn sein Freund Robert an und teilte ihm aufgeregt mit, Helene hätte Selbstmord begangen. Joachim erschrak und brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Mühsam fragte er, wie sie sich umgebracht hatte, und Robert erzählte ihm von Schlaftabletten und einer Flasche Champagner. Er hatte ihr noch gar nicht gesagt, dass er sie rauswerfen müsse, sagte Robert. Sie musste es geahnt haben.
Joachim schwieg.
Zwei Wochen später stand Joachim mit seiner Frau an Helenes Grab.
»Du machst dir doch nicht immer noch Vorwürfe?«
»Ich hätte vielleicht noch etwas für sie tun können.«
»Du hast für sie getan, was du konntest. Diese Fernsehsache vermittelt. Was hättest du sonst für sie tun können, du kanntest sie doch kaum.«
»Ich hätte mich bei Robert für sie einsetzen können.«
»Du hast getan, was deine Pflicht war. Als Kritiker und als Roberts Freund.«
»Ja.«
»Wenn sie klug gewesen wäre, hätte sie ihre Chancen besser genutzt und sich nicht so gehen lassen.«
»Ja.«
»Du hast dich absolut korrekt verhalten.«
»Ja.«
»Du bist ein guter Mensch. Sonst würdest du dir nicht wegen diesem Mädchen solche Gedanken machen.«
Er nickte und legte den Arm um seine Frau.
»Weißt du was, ich bin sehr glücklich, dass ich dich habe.« Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.
Joachim Hartmann war ein zufriedener Mann.